von Nadine Sorgenfrei
Heinke Brodersen seufzte. Seit rund zehn Minuten schaute sie mit gerunzelter Stirn auf das Angebot in ihrer Hand. Ihre Rührmaschine hatte den Geist aufgegeben, 4.370 Euro sollte ein neues Gerät kosten, obwohl es nur 50 Liter Teigvolumen hatte. „Man konnte doch seine Rechnungen beim Radio einschicken und die zahlen das dann“, dachte Heinke sich. „Aber das war wahrscheinlich nur für Privatleute, nicht für Bäckerei-Betriebe …“.
Die Bäckerei Brodersen war ein alteingesessener Familienbetrieb, 1935 von Urgroßvater Konrad gegründet. Ungefähr so alt waren auch die meisten Geräte und Maschinen, jedenfalls kam es Heinke gerade so vor. Damals war es ein florierendes Geschäft gewesen. Damals, als die Bäcker noch um 3 Uhr früh in der Backstube kneteten und nicht um 6 Uhr morgens die TK-Ware aus Polen in den Ofen schieben, so wie in den Backshops, die es heute an jeder Ecke gab.
Wenn drei sterben, bleiben zwei übrig
„Ach mien Seuden, was machen denn die hässlichen Falten auf deiner hübschen Stirn?“ Opa Detlev Brodersen, besser bekannt als Opa Deddel, betrat die Backstube und nahm sich einen der lauwarmen, duftenden Kekse direkt vom Blech.„Opa, du musst dir deine Haube aufsetzen, wenn du in die Backstube kommst“, rügte ihn Heinke. „Wenn das Gesundheitsamt jetzt kommt.“ „Also, wenn die Dame vom Gesundheitsamt auch nur ein Haar auf meinem Kopf entdeckt, das überhaupt in deinen Keksteig fallen könnte, dann würde ich sie sofort auf ein Gläschen Champagner einladen“, jubelte Opa Deddel. Genau diese Einstellung und sein sonniges Gemüt liebte Heinke an ihrem Opa. Er war nun mal der wichtigste Mensch in ihrem Leben.
Seit 30 Jahren waren die beiden ein Team, Opa und Enkelin gegen den Rest der Welt. Ein Lkw, der bei Glatteis in den Golf der Brodersens hinein rutschte, hatte die Familie damals in wenigen Augenblicken von fünf auf zwei Mitglieder reduziert. Oma Inge und Heinkes Eltern wollten den großen Kaufmannsladen als Weihnachtsgeschenk für Heinke besorgen, während Opa Deddel auf die damals Sechsjährige aufpasste. Ohne seine Enkelin wäre Deddel wohl nie darüber hinweggekommen, am selben Tag seine geliebte Inge, ihre gemeinsame Tochter und den Schwiegersohn zu verlieren. Das kleine Mädchen und er hatten zusammen den größten Kummer ihres Lebens bewältigt. Die Lütte war praktisch bei ihm in der Backstube groß geworden und hatte diese nie wirklich verlassen. Sie wollte nie etwas anderes machen. Und können, ja, können konnte sie auch nichts anderes, wenn man ehrlich war.
Nun bestand Deddels Lebensaufgabe darin, seine Enkelin so glücklich wie nur möglich zu machen. Einen Ehemann hatte die Lütte mit ihren 34 Jahren immer noch nicht. Dabei hatte sie so eine hübsche, rundliche Figur…
Aus Norddeutschland in die weite Welt
„Nun zeig mal her, was dir so Sorgen macht“, sagte er, während er Heinke den Zettel aus der Hand nahm. „Über 4000 Euro! Donnerlüttchen, das ja mal ’n stolzer Preis. Aber lass‘ mal gut sein, Opa kümmert sich schon darum. Mach du mal lieber deine Kekse, die Amerikaner warten schon drauf.“
Uropa Konrads Cousine war 1945 von Amrum in die USA ausgewandert, in der Hoffnung, ein paar Dollar im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu machen. In Philadelphia eröffnete sie „The German Deli“, in dem sie Delikatessen aus ihrer Heimat verkaufte. Besonders die Kekse der Bäckerei Brodersen waren bei den Amis beliebt – heute noch lieferte Heinke Friesenkekse zu ihrer Verwandtschaft über den großen Teich. Ein wichtiges Geschäft, denn das heimatliche lief nicht mehr so gut. Schon öfter hatte Opa Deddel Heinke finanziell aus der Patsche helfen müssen. Wie er sich das leisten konnte, darüber ließ er Heinke allerdings im Unklaren.
Opas Geheimnis
Heinke ging ihre Vorräte durch. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Hagelzucker, den sie für ihre Friesenkekse lagerte – einer der Leinensäcke hatte zwar die gleiche Größe, aber ein anderes Gewicht als die restlichen. Sie öffnete den Sack, schaute hinein und steckte sich ein paar der kleinen, stumpf-weißlichen Brocken in den Mund. Pfui-Teufel, der Zucker löste sich ja gar nicht auf auf! Sie biss vorsichtig drauf – autsch! Mit dem Hagelzucker spuckte Heinke ein kleines Stückchen Eckzahn aus. Was war das für ein Zucker?„Ich habe dir die neue Rührmaschine bestellt“, rief Opa Deddel ihr von nebenan zu. „Habe gleich das neuere Modell gekauft, damit du es ein bisschen leichter hast, mien Deern.“
„Herzensgut, aber woher hatte er nur immer das Geld …?“, wunderte sich Heinke. Da fiel ihr die Zeitungsmeldung von heute ein: „Rohdiamanten-Raub in Antwerpen … Eine heiße Spur führt nach Norddeutschland …“.
Ihr Opa war vor etwa 40 Jahren in Antwerpen. Angeblich für ein Praktikum, um zu lernen, wie man belgische Waffeln backt. Die aber niemals im Geschäft angeboten wurden. Aber auf keinen Fall konnte es sein, dass … Oder etwa doch …? Ihr Blick fiel auf die Brocken in ihrer Hand. War das etwa gar kein Zucker, sondern … Nein. Niemals!
„Opa!“, rief sie in die Backstube. „Hast du etwa Diamanten geklaut?“ Die Frage war natürlich als Scherz gemeint. Nur lachte Opa nicht. „Äh, also, ja-nee …“ stotterte er mit rotem Kopf. Heinke wurde eiskalt. „Opa …?!“ Heimlich tun konnte er, direkt zu lügen gelang ihm dagegen nie. „Ja, nö, geklaut natürlich nicht. Die Geschichte ist die:
Mein belgischer Kumpel Hugo hatte damals eine Schwester. Die Deern hatte für den Diamanthändler als Vorzimmerdame gearbeitet. Nur hat der Lump sie nicht besonders damenhaft behandelt.
Als sie eines Tages, nun ja, wie soll ich sagen, ein kleines Küchlein im Ofen hatte, war das zu der damaligen Zeit natürlich ein Skandal! Das Mädchen wurde von seinen Eltern hochkant rausgeworfen und hätte nie mehr Arbeit gefunden. Sie wollte sich schon in der Schelde ertränken, das arme Kind.
Um für sie zu sorgen, hatte Hugo den Tresorraum des Diamanthändlers – ähm, nun ja – besucht und wollte nur was mitnehmen, damit seine Schwester über die Runden kam. Das war der reiche Sack ihr doch schuldig! Dass in dem Büddel gleich so viel drin war … Er konnte ja schlecht wieder auftauchen und Wechselgeld abgeben. Nun ja, als die Polizei auf seine Spur kam, habe ich ihm halt geholfen und einen Teil mit nach Deutschland gebracht. Ich wollte es ihm später ja wiedergeben, aber dann … Nun, dann erfuhr ich von Hugos Beerdigung. Und seitdem liegen die paar
Steinchen nun hier herum.“
„Opa!“ Heinkes Stimme wurde schrill. „Das hier sind die gesuchten Rohdiamanten? Hier in meiner Backstube? Die müssen wir sofort der Polizei übergeben!“ Recht oder Gnade?
Heinkes Beine fingen bei diesen Worten an zu zittern. War das etwa all die Jahre Opas geheime Geldquelle? Ihr geliebter Opa war also ein Verbrecher! Räuber, Juwelendieb, Halunke, Spitzbube. Sie selbst konnte nicht einmal im Parkverbot halten, zu groß war ihre Angst, erwischt zu werden. Es nützte nichts, sie musste zur Polizei. Keine Stunde länger konnte sie eine Diebesbeute in ihrer Backstube dulden. Sie musste Opa Deddel melden. Das würde doch Straferleichterung geben, oder?
Ins Gefängnis müsste Opa sicherlich trotzdem. Mit seinen 80 Jahren … Sie selbst wäre dann ganz allein. Und ohne den Rührautomaten konnte sie die Bäckerei schließen. Aber einen Diebes-Fund behalten? Eine heiße Spur hatte die Polizei ja angeblich bereits. Sie konnten also jede Minute vor ihrer Backstube stehen. Heinke wurde heiß und kalt. Wie ein Tiger im Käfig lief sie hin und her, hin und her. Oh je, wenn die Polizei nun die Beute hier findet und Opa Deddel wirklich eingesperrt wird? Was sollte sie nur tun?
Backen beruhigt die Nerven
Um sich zu beruhigen tat sie das, was sie am besten konnte: Kekse backen. Sie holte die Teigrollen aus der Kühlkammer und ganz automatisch begannen ihre Hände, den Teig in fünf Millimeter breite Stücke zu schneiden, immer eins nach dem anderen. Nur waren ihre Hände zittriger als sonst, ihre Bewegungen fahriger. Als Heinke den Hagelzucker in eine große Schüssel gab, fiel ihr Blick wieder auf das Säckchen mit den Rohdiamanten. Wie in Trance griff sie hinein und befühlte diese milchig-weißen Steine, die ein Vermögen wert waren.
„Ding-Dong!“, schellte die Türklingel vorn im Laden. Heinkes Herz blieb kurz stehen und vor lauter Schreck fiel ihr das kleine Säckchen in die große Schüssel mit dem Hagelzucker. „Ich geh‘ schon, mien Deern!“, rief Opa Deddel ihr zu und bediente seelenruhig vorne die Kundin, während Heinkes Herz in der Backstube laut pochte. Tränen schimmerten in ihren Augen. Das hätte schon die Polizei sein können! „Was soll ich bloß ohne Opa tun …?“, fragte sie sich.
Die Guten in’s Töpfchen …
Ihr Blick fiel auf ihre Schüssel. Oh nein! Alle Rohdiamanten waren in den Hagelzucker gefallen. Die Bröckchen ließen sich kaum voneinander unterscheiden. „Ich kann das einfach nicht tun“, flüsterte sie. „Bitte verzeih mir, Opa!“ Heinke zog sich Mantel, Schal und Mütze an und machte sich auf den Weg zur Polizei.
Opa Deddel seufzte. Die Lütte hatte einfach ein zu gutes Herz. Und viel zu ehrlich war sie auch …Nun ja. Er beschloss, seiner Enkeltochter einen Gefallen zu tun und die Friesenkekse fertig zu backen. Ein rohes Plätzchen nach dem anderen rollte er mit der Kante durch den Hagelzucker, bis die große Schüssel leer war. Anschließend schob er die 14 Bleche in den Ofen und setzte eine Kanne Kaffee auf. Süßer Duft erfüllte die Backstube, als er die Friesenkekse zehn Minuten später aus dem Ofen nahm. Als das Gebäck ausgekühlt war, verpackte Opa Deddel es sorgfältig und brachte es zur Post auf den Weg zum German Deli nach Philadelphia. Er schickte auch gleich seiner amerikanischen Verwandtschaft noch ’ne WhatsApp: „Die besten Kekse der Welt sind mal wieder auf dem Weg zu euch!“ Das würde die Familie freuen. Sie hatten
es da drüben ja auch nicht leicht.
Auf der Suche
Am selben Abend standen tatsächlich zwei Kleinstadt-Polizisten in der Backstube. „Tut uns leid, Opa Deddel, wir müssen nun mal unseren Job machen“, entschuldigte sich sein Skat-Bruder, während Heinke weinend neben dem Polizisten stand. „Sollte aber nicht lange dauern.“ Nach einer knappen Stunde verabschiedeten sich die Beamten. „Alles sauber hier. Nix für ungut, Opa Deddel! Heinke, du solltest mal ein büschn entspannen. Dein Opa als Diamanträuber, also wirklich …“ „Ihr habt ja Recht, da war ich wohl etwas hysterisch“, Heinke stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie schloss die Tür hinter den Polizisten ab. Noch zitterten ihre Hände etwas. Wer weiß, was da noch kommen würde? Sie hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund und spuckte langsam zwölf kleine Steine hinein. Man wusste ja nie, ob doch noch Anwalts- kosten auf sie zukommen würden