Ein Irrtum ist es keineswegs, dem wir da unterliegen. Jedes Jahr ist es gerade in den Medien ein beliebtes Thema, das kurz aber hartnäckig – oder soll ich besser schreiben sehnsuchtsvoll – angeschnitten wird. Trotz seiner scheinbaren Bedeutungslosigkeit nimmt das Interesse an diesem Begriff immer Ende Februar grundsätzlich, in diesem Februar außerordentlich, zu. Warum diese hungrige Nachfragedynamik? Ein Wert reicht bereits, diese Frage zu beantworten: 300 %. Soll heißen: Dreimal so nass wie sonst üblich war der Februar 2022. Entsprechend viele Wolken waren im Weg, verdrückte sich die Sonne hinter Himmelsgrau, und stürmisch war es denn auch noch.

Die Kraft der Worte

In dieser brisanten, hochsensiblen Stimmungswelt reicht ein Wort und die Gefühle fahren Fahrstuhl: Frühling. Die psycho- logische Wirkung ist enorm und nahezu von Magie geprägt. Frühling lautet das Zauberwort. Gehört oder gelesen, da werden die Beine weich, das Gesicht strahlt, die Stimme macht eine Oktave (bei Vielen sind es gleich zwei) höher weiter. Bemerkenswert, was Verzückung bewirken kann. Der März, er ist bedingungslos für Frühling reserviert. Dabei rede ich gar nicht mal von dem ganzen Monat. Ich meine erstmal nur einen Tag, den Tag, der immer dasselbe Datum trägt, Jahr für Jahr: der meteorologische Frühlingsanfang, der erste März. Phänomenologisch hat er keinerlei Bedeutung. Wohl aber hat er die Kraft, den Menschen verzückt aus sich herauskommen zu lassen – und das wegen nur eines Wortes: Frühling. Dabei handelt sich am ersten März einfach nur um einen nüchtern-kalten, mathematischen Startwert, ab dem alles meteorologisch gemessene Zahlenwerk von nun an in eine große Kiste mit Aufschrift „Frühling“ kommt. Der Statistiker spricht von einer Datenbank, bereit ausgewertet zu werden.

Frühlingsgefühle

Doch der März kann mehr als nur stumpf diktatorisch für die Nachwelt Zahlen zu sammeln. Den Beweis liefert das zweite Datum. Bei dem wird es ernst. Am 20. März 2022, einem Sonntag, ist der echte Frühlingsanfang. War der zwei Oktaven – Sprung völlig unbegründet, darf jetzt alles rauskommen, was mag. Ab diesem Moment verschiebt sich der Stand der Sonne äquatorüberquerend auf die Nordhalbkugel. Die Tage werden immer länger, die Temperaturen steigen, die Natur explodiert – und wir können emotional nicht mehr an uns halten. Dieses Mal zurecht. Statt Worthülsen ist es jetzt an der Natur zu reagieren.
Zaghaft aber unübersehbar, erfrischend, erquickend, ansteckend, unwiderstehlich. Frühling wir kommen.

Meeno Schrader
Schon seit seinem 15. Lebensjahr ist das Wetter für Meeno Schrader weit mehr als nur Small Talk. Er hat es an den unterschiedlichsten Plätzen der Welt „getestet“ und lebte und arbeitete unter anderem in Australien, Korea, der Karibik und den USA. Seit 2002 ist er der „Wetterfrosch“ des Schleswig-Holstein-Magazins beim NDR. In der Lebensart verrät er jeden Monat einen Gedanken aus seinen Wetterwelten.

Vorheriger ArtikelZum Weltfrauentag 2022
Nächster ArtikelZWEI SEHENSWERTE AUSSTELLUNGEN