von Hanna Wendler

Anzeige

Dick eingemummelt in alle Klamotten, die mein Rucksack hergibt, stapfe ich durch die dichten Nebelschwaden, die der Wind über den 1421 Meter hohen Gipfel des Berges Signal du Bouges treibt. Als vor mir schemenhaft große, aufgetürmte Steinhaufen auftauchen, halte ich plötzlich erschrocken inne: Hat da nicht eben etwas an meinem Rucksack gezogen und war da nicht ein leises Flüstern an meinen Ohren? Ein paar Meter vor mir kann ich die Umrisse meiner Reisebegleiterin Judith erkennen und verstohlen blicke ich mich um, doch hinter mir tanzt nur der Nebel im Pfeifen des eisigen Windes …

Ich bin mitten in den Cevennen unterwegs, dem südöstlichen Teil des französischen Zentralmassivs – einer der letzten wilden Ecken Europas. Seit einer Woche wandere ich gemeinsam mit meiner Freundin Judith auf den Spuren des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson durch Südfrankreich. 

1878 bricht der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson, der später mit Werken wie „Die Schatzinsel“ und „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ zu Weltruhm gelangen wird, zu einer abenteuerlichen Wanderung durch Südfrankreich auf. 

Im Herbst 1878 bricht der damals 28-jährige Stevenson zu einer abenteuerlichen Reise durch das französische Mittelgebirge auf. Der junge Schriftsteller, der später mit seinen Werken „Die Schatzinsel“ und „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ zu Weltruhm gelangen wird, ist auf der Suche nach Abenteuer, Inspiration und Ablenkung von seiner unglücklichen Liebe zu Fanny Osbourne. Einen Monat lang weilt er in dem Dorf Le Monastier-sur-Gazeille und trifft umfangreiche Vorbereitungen für seine rund 220 km lange Wanderung bis in den bezaubernden Ort Saint-Jean-du-Gard, der „Perle der Cevennen“. Umfangreich wird mit der Zeit auch sein Gepäck: Er lässt sich einen der ersten Schlafsäcke anfertigen, packt unter anderem einen Revolver, Bücher, Wein, einen Eierschneebesen und sogar eine ganze Hammelkeule ein. Weil er all diese Dinge unmöglich selbst tragen kann, kauft er sich eine Eselin. „Modestine“ wird ihn auf seiner zwölftägigen Reise durch die Wildnis treu begleiten. 

Slow travel

„Von einem Touristen meiner Sorte hatte man in dieser Gegend noch nie etwas gehört. Man betrachtete mich mit geringschätzigem Mitleid wie einen, der sich eine Mondreise vorgenommen hat, und zugleich mit respektvollem Interesse wie einen, der im Begriff ist, zum unwirtlichen Nordpol aufzubrechen.“ 

(R. L. Stevenson, Reise mit einem Esel durch die Cevennen)

Seine störrische Begleiterin trug nicht einfach nur sein Gepäck über Stock und Stein, sondern beeinflusste die Art der Reise nicht unwesentlich. Vielleicht kann man Modestine als Erfinderin des „Slow Travel“ bezeichnen. Stevenson hat vor allem in der ersten Zeit seine liebe Mühe das eigenwillige Tier zu bewegen. Doch genau in dieser langsamen Art des Reisens mag ein Teil des besonderen Zaubers gelegen haben, der diese Wanderung ausmachte.

Stevenson war nicht nur ein guter Beobachter, sondern auch ein fleißiger Schreiber und hielt seine Eindrücke und Erlebnisse in einem Reisebericht fest. Ein Jahr später veröffentlichte er diesen unter dem Titel „Reise mit einem Esel durch die Cevennen“. Dieses Buch verhalf ihm zum Durchbruch und wurde zum Vorbild für spätere Reiseliteratur. Dank dieses Werkes ist seine Route bestens überliefert und wurde 1993 durchgehend markiert und als GR 70 in das Netz der französischen Fernwanderwege aufgenommen. 

In der Unterkunft “Loz´air Randonnées” in Les Alpiers kann man sogar in einem Tipi übernachten. (Foto: Hanna Wendler)

Wildes Europa

Mein Weg auf den Spuren von Stevenson führt mich durch eine der ursprünglichsten und wildesten Ecken Europas. Vom Startpunkt Le Monastier-sur-Gazeille durchquert der Weg die bewaldeten, vulkanischen Hochflächen der Region Velay, Gévaudan, das mit Heiden, Felsen und Kiefern bedeckte Land der wilden Tiere, den steppenartigen Berg Mont Lozère und die wilde Einsamkeit der Cevennen, bis nach Saint-Jean-du-Gard. Hier scheint die Zeit stillzustehen und jeder Schritt ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Auch heute noch hat der Weg nichts von seinem Zauber verloren und die Region hat sich ihre Ursprünglichkeit bewahrt.

Am Ende jeder Etappe wählen wir Wanderherbergen, in denen wir in den Genuss ausgezeichneter Gastfreundschaft und natürlich der exzellenten französischen Küche kommen. Mit viel Liebe und regionalen Spezialitäten werden wir jeden Abend mit einem großartigen Drei- bis Vier-Gänge-Menü bekocht. Oft isst man sogar gemeinsam mit den Gastgebern in familiärer Atmosphäre. 

Das Regionale hat hier eine große Bedeutung und schnell lernen wir, dass es an jedem Ort eine ganz eigene Spezialität gibt, in deren Genuss wir ein paar Kilometer weiter nicht mehr kommen werden. Nach dieser Erkenntnis wünschen wir uns dann doch statt unseres begrenzten Rucksackvolumens einen treuen Packesel, der all diese Köstlichkeiten für uns mit nach Hause tragen könnte. 

Foto: Hanna Wendler

Bewegende Begegnungen

Nicht nur die Landschaft verzaubert, es sind die kleinen, unverhofften Begegnungen, die sich auf ganz besondere Weise ins Gedächtnis schreiben. In Pradelles, einem der schönsten Dörfer Frankreichs, komme ich in den Genuss einer spontanen Stadtführung durch unseren Gastgeber. Dank ihm erfahre ich von der wehrhaften Jeanne de la Verdette, die 1588 einen Angriff der Hugenotten mit einem beherzten Steinwurf von einer Treppe abwehrte, entdecke eine schwarze Madonna, Masken und Gesichter in den Mauerwerken an den Straßen. So klein die Orte auf dem Weg auch sein mögen, so groß sind doch die Geschichten, die sie erzählen. 

Und das ist der Punkt, an dem ich mich auf dieser Reise dem Erstbegeher Stevenson ganz nahe fühle, der mit seiner Literatur fantastische Welten erschuf: Dieser Weg und diese Landschaft erzählen Geschichten. Sie streichen einem mit dem Wind um die Nase, lugen hinter einem Stein hervor und erklingen im Gurgeln eines Baches. Es mag nur der Wind gewesen sein, der an meinem Rucksack gezogen hat, doch ich habe mich in den kommenden Tagen immer wieder in dem sicheren Gefühl verstohlen umgeblickt, dass dort etwas ist, das mich und jeden anderen, der diesen Weg geht, vorsichtig berührt. 

„Was mich betrifft, so reise ich nicht, um irgendein Ziel zu erreichen, sondern um zu gehen. Ich reise um des Reisens willen. Worauf es ankommt, ist in Bewegung zu sein.: die Nöte und Haken unserer Existenz unmittelbar zu spüren; aus dem Federbett der Zivilisation zu steigen und zu entdecken, dass die Erde unter den Füßen aus Granit besteht (…).“

(R. L. STEVENSON, REISE MIT EINEM ESEL DURCH DIE CEVENNEN
Blickfang der Stadt Le-Puy-en-Velay sind die beiden ehemalige Vulkanschlote, auf deren Kuppen die Kirche Saint-Michel d´Aiguilhe und die 16 Meter hohe Statue der Notre-Dame de la France thronen.



Persönliche Empfehlungen

Le Puy-en-Velay

Der ursprüngliche Stevensonweg beginnt in Le Monastier-sur-Gazeille, doch man kann von dem schönen Städtchen Le Puy-en-Velay auf dem GR 430 eine erste Etappe gehen. Ein  schöner Startpunkt für die Reise.

www.lepuyenvelay-tourisme.fr
Tourismusbüro der Region Haute-Loire
www.auvergnevacances.com

La Croisée des Chemins

Kleiner Laden des Wanderkomitees Haute-Loire, in dem man alle wichtigen Informationen zum Stevensonweg und allen anderen Wanderwegen in der Region findet. 

Le Puy-en-Velay, www.rando-hauteloire.fr

Hôtel Dyke

Sehr gepflegtes Hotel in zentraler Lage mit einem sehr netten und persönlichen Service.
Le Puy-en-Velay, www.dykehotel.fr

Terre d`Accueil

Schöne Unterkunft mit einem sehr gut gelaunten Gastgeber, der ein leckeres Abendessen mit Erlebnisfaktor zaubert.
Pradelles, jr.rouviere43@live.fr

Loz´air Randonnées

Unterkunft mit toller Aussicht, köstlichem Abendessen und der Möglichkeit im Tipi-Zelt zu nächtigen.
Les Alpiers, www.lozair.net

Les Chambres du Thérond

Charmante Unterkunft in einem schönen Haus mit einem netten Gastgeber, der viel über Stevenson erzählen kann.
Florac, www.du-therond.com

Restaurant Les Tables de la Fontaine

Hier wird ein ausgezeichnetes Menü serviert für das man unbedingt reservieren sollte.
Florac, www.tables-de-la-fontaine.com

Le Mas Stevenson

Nette Unterkunft mit sympathischen Gastgebern, leckerem Abendessen und dem besten Kastanienkuchen der gesamten Strecke.
Lébou, kurz vor Saint-Ètienne-Vallée-Française, www.lemasstevenson.fr





Vorheriger ArtikelUnterwasserwelten – Interview mit Tobias Friedrich
Nächster ArtikelMagic Moments in New York City