Michael Tsokos ist als Rechtsmediziner und Bestsellerautor ein Phänomen und großartiger Botschafter für seine Wissenschaft. Dass der seit Jahren in Berlin Lebende eigentlich ein ganz und gar norddeutsches Gewächs ist, ist aber auch unbedingt der Rede wert. Interview: Daniela Karpinski.
Lieber Herr Tsokos, wenn ich Sie in Talkshows oder auf Insta sehe, nehme ich, selbst Norddeutsche, Ihre Art als etwas zurückgenommen, dezent, aber immer mit Witz im Hintergrund und dabei sehr, sehr unterhaltsam wahr – herrlich norddeutsch eben! Wie viel Nordisches steckt in Ihnen?
Ich bin Nordisch by Nature. Durch und durch. Und bin froh, auch in den siebzehn Jahren, die ich jetzt in Berlin lebe und arbeite, nichts davon eingebüßt zu haben – weder die trockene Art, noch den norddeutschen Wortwitz, noch den Kieler Slang.
Sie sind in Kiel geboren, in Kronshagen aufgewachsen, haben in Kiel studiert. Hat Sie der Norden geprägt?
Definitiv. Ich wäre sicherlich nicht der, der ich bin, wenn ich im Ruhrpott oder im Bayerischen Wald aufgewachsen wäre. Insofern bin ich dankbar, dass es meine Familie nach ihrer Flucht aus Dresden zum Ende des Zweiten Weltkrieges nach Kiel verschlagen hat.
Gab es regional Besonderes, an das Sie sich gern erinnern (neben den Moorleichen)? Welche Rolle spielt die Heimat in Ihrem Leben?
Es ist immer wieder schön, wenn ich in meiner alten Heimat bin, den Wind zu spüren (bei dem leisesten Windhauch ereifert sich der gemeine Berliner, es würde heftig stürmen, die Berliner würden wahrscheinlich von einer norddeutschen steifen Brise aus den Latschen geweht werden), die Schreie der Möwen zu hören und am Kieler Hafen oder Ostseestrand die salzige Luft zu atmen, am besten mit den HDW-Kränen im Hintergrund oder dem Laboer Ehrenmal irgendwo ganz hinten in der Ferne. Heimat ist mir sehr wichtig und der Norden ist meine Heimat. Ob Kiel, Flensburg, Kappeln oder Schleswig. Da gehöre ich nun mal hin.
Gibt es noch familiäre Bezüge? Geschwister, alte Freund*innen?
Meine Eltern sind erst vor wenigen Monaten in einem Abstand von nicht mal drei Wochen verstorben. Das ist ein Einschnitt im Leben, auf den niemand vorbereitet ist. Auch ich nicht, obwohl der Tod mein Leben ist. Ich muss nicht nur lernen, mit der Lücke, die sie hinterlassen, klar zu kommen, sondern auch, dass ihr Haus in Kronshagen jetzt verwaist ist, keine Anlaufstation mehr für meine Frau, mich und unsere Kinder mehr dort existiert. Aber trotzdem habe ich noch „Familie“ im Norden, wenn auch nicht blutsverwandt. Schulfreunde, Kommilitonen
aus dem Studium, Kieler Jungs und Deerns, mit denen ich einen Teil des Weges gegangen bin. Und das sind feste Bande. Es gibt fast nichts Schöneres, als einmal im Jahr mit den alten Gesichtern zur Kieler Woche über die Kiellinie zu ziehen. Es scheint dann so, als wäre es nie anders, als sei ich nie wirklich weg gewesen …
Ich hörte, Sie machen Urlaub in Schönberg? Was genießen Sie dort am meisten?
Kommen Sie mal nach ein paar Monaten im Großstadt-Moloch Berlin auf den Deich hinter Brasilien oder Kalifornien. Die sich auf der Ostsee spiegelnde Abendsonne, Möwengeschrei, gepflegte Häuser, saubere Straßen. Das ist eine andere Welt. Eine, die ich immer mehr zu schätzen gelernt habe in den letzten Jahren.
Nach den Jahren in Berlin: Vermissen Sie den Norden? Manchmal, immer? Den weiten Schleswig-Holsteiner Himmel?
Manchmal mehr, manchmal immer. Wenn die Sehnsucht nach der alten Heimat und den Menschen im Norden irgendwann zu groß wird, werde ich vermutlich zurückziehen in das Land zwischen den Meeren!
Die Berliner Mentalität ist ja, nun, etwas ruppiger als die Kieler und die nordische, mit der Sie aufgewachsen sind. Wie nehmen Sie das wahr?
Der Berliner an sich hat eine große Klappe, ist laut und hat nicht selten schlechte Manieren. Da bleiben körperliche Auseinandersetzungen nicht aus. Gut für meinen Job …
Kieler Sprotten oder Berliner Weisse?
Berliner Weisse.
Labskaus oder Bulette?
Fischbulette
Berliner Seen oder Ostsee?
Ostsee. Wenn Sie nach Brandenburger Seen gefragt hätten, wäre die Wahl darauf gefallen.
Ein paar Ihrer Interessen neben der wissenschaftlichen Arbeit sind bekannt, fleischfressende Pflanzen im Institut, Tierpräparate daheim, Lost-Places-Wanderungen in der Freizeit, Ihre Liebe zu AC/DC. Verraten Sie uns doch bitte ein Detail, das die Leser*innen überraschen könnte: Stricken Sie vielleicht oder singen Sie gern englische Liebeslyrik? Machen Sie Yoga, lassen Sie für ein gutes Franzbrötchen alles liegen?
Ich liebe Western-Romane. Diese von völlig unbekannten Autoren unter Pseudonym geschriebenen und in kleine Heftchen zusammengezimmerten Geschichten aus der Zeit, als der Westen noch wild und ungezähmt war. Keine Ahnung warum, ich verschlinge die im Urlaub. „See me ride out of the sunset“, um es mit Bon Scott von AC/DC zu sagen …
Wenn man Sie bei Inas Nacht sieht oder in Talkshows, spürt man Ihre Begeisterung für Ihre Arbeit. Fühlen Sie sich wohl im Rampenlicht?
Ja, letztlich ist es als Hochschullehrer, der ich als Professor nun mal bin, ja nichts anderes. Man steht vorne und macht die Rampensau. Wenn nicht, kommt niemand zur nächsten Vorlesung. Und ob da nun eine oder fünf Kameras alles aufzeichnen, ist am Ende auch egal.
Bei all Ihren Aktivitäten, ein sensationell erfolgreicher Insta-Account, Podcast, Buchautor und natürlich die rechtsmedizinische Arbeit an der Charité, die Professur: Ihr Zeitmanagement muss hervorragend sein. Wie schaffen Sie das? Hilft Ihnen ein festes Team? Delegieren Sie? Was machen Sie auf jeden Fall selbst?
Ich mache das tatsächlich alles alleine. Die Einzige, die mich bei meinem Instagram-Kanal @dr.tsokos unterstützt, ist meine dreizehnjährige Tochter, die viele der Videos mit mir dreht, alles mit Handykamera und ohne Drehbuch. Try and error, aber meistens one shot. Ich könnte da auch nicht jemand ransetzen, der mit den Followern schreibt, den Content festlegt oder mir sagt, was ich wann posten soll. Das wäre nicht ich und das wäre nicht authentisch. Das merken die Fans, Leser und Follower sofort. Einige Autoren haben das versucht, eine Agentur hat deren Kanal bespielt und das haben die Fans sehr schnell gemerkt. Ging nach hinten los. Und gerade für Authentizität steht mein Kanal ja als der größte deutsche Medizinkanal auf Instagram, neben wissenschaftlich fundiertem Know-how aus dem Sektionssaal. Und das kann eben auch niemand anders machen. Bei meinen Büchern habe ich eine fantastische Lektorin, Alex Löhr, mit der ich seit sieben Jahren zusammenarbeite. Wir sind ein eingespieltes Team. Bei meinem Podcast habe ich Anja Goerz, die als Journalistin die richtigen Fragen stellt und immer darauf bedacht ist, dass wir auch die Perspektive der Opfer nicht aus dem Blick lassen – im Gegensatz zu anderen True Crime Podcasts, die den Täter teilweise regelrecht abfeiern und in meinen Augen viel zu viel Raum geben. Und: Ich stehe tatsächlich noch jeden Tag selbst im Sektionssaal, denn nur so bleiben sie vor ihren Mitarbeitern ein Chef zum Anfassen und nicht der Onkel aus dem Fernsehen oder von der Bestsellerliste. Und schließlich hole ich mir da ja meine Geschichten, egal ob für Instagram, Buch oder Podcast: im Sektionssaal.
Nun also die neue Thriller-Reihe mit Sabine Yao in Berlin. Ich hatte ja gehofft, Sie würden literarisch nach Kiel zurückkehren … vielleicht mit True Nordic Crime? Wäre Schleswig-Holstein nicht auch ein großartiger Hintergrund für viele, viele gute Forensik-Geschichten?
Es gibt ja bereits ein True-Crime-Format bzw. eine Rechtsmedizin-Reihe von mir, die in Kiel spielt: Die Paul-Herzfeld-Trilogie („Abgeschlagen“, „Abgefackelt“ und „Abgetrennt“). Insofern: Schleswig-Holstein bietet viele gute Schauplätze, aber jetzt war es mal wieder Zeit für Berlin und das umgebende Brandenburg als Schauplatz meiner neuen Sabine-Yao-Reihe!
Sabine Yao ist als Rechtsmedizinerin uns Leser*innen schon bekannt, jetzt bekommt sie nach „Kaltes Land“ eine eigene Reihe, „Mit kalter Präzision“ ist der erste Fall. Wie kam das?
„Kaltes Land“ war eigentlich als Stand-alone geplant und ich wollte mich, auch auf Bitte meines Verlages, von meinen anderen Reihen und (männlichen) Hauptfiguren dabei bewusst abheben, mal eine neue Figur in den Mittelpunkt stellen. Letztlich hat es mir so viel Spaß gemacht, aus der Sicht einer weiblichen Protagonistin zu schreiben und es hat so gut funktioniert, dass ich einfach mit Sabine Yao weitermachen musste.
Sabine Yao, Monica Monti, die sehr geniale Sara Wittstock: Interessante Frauenfiguren treiben die Geschichte in diesem Fall voran, Frauen sind Opfer, aber eben auch Ermittelnde. Wollten Sie einen weiblicheren Blick auf Ihr Metier? Wie können Sie sich da einfühlen?
Fast 80 Prozent meiner Mitarbeiter sind Frauen. Ich bin immer wieder fasziniert, Ihnen zuzusehen und zuzuhören, wie sie sich im Sektionssaal den Fällen, den Fragestellungen nähern. Nicht anders aus rechtsmedizinischer Sicht, denn Fachwissen ist Fachwissen, aber eine andere Herangehensweise. Eben eine weiblich getönte. Da schaue ich hin, höre zu, lese die Protokolle sehr genau und kann da viel von lernen, wie man als Frau denkt und Anleihen für meine Bücher holen. Und dann ist da immer noch meine Frau, die ich häufig beim Schreiben gefragt habe, wie Sabine Yao wohl in einer privaten Situation reagieren würde. Und was sie in bestimmten Situationen fühlt.
2014 haben Sie an der Charité die Berliner Gewaltschutzambulanz gegründet, eine Anlaufstelle für Opfer von Gewalt und Misshandlung. Woher rührt dieses besondere Engagement für die Opfer, dort wohl vor allem Frauen? Sind Sie ein feministischer Mann?
Nein, ich bin nicht mehr feministisch als jeder andere Arzt, der mit brutalsten Verbrechen und Gewalt gegen Hilflose und Wehrlose konfrontiert wird, sondern sehe eben Dinge und erfahre Sachen, die andere nicht sehen, von denen die meisten Menschen sehr wahrscheinlich nicht mal ahnen, dass es sie gibt, dass Menschen anderen Menschen, insbesondere Frauen und Kleinkindern, so etwas antun. Und das jeden Tag in Deutschland. Und da kann ich nicht Schweigen. Ich sehe es als aus dem von mir geleisteten Hippokratischen Eid resultierende Pflicht, den Schwachen zu helfen und denen, die nichts sagen können, eine Stimme zu geben. Deshalb bin ich Rechtsmediziner geworden.
Die Ideen für weitere Bücher werden Ihnen nicht ausgehen, zumal sie auf echten Fällen beruhen. Sind Sie schon am nächsten Yao-Fall dran? Oder kommt was anderes?
Ich habe schon einiges an Ideen für weitere Sabine-Yao-Bände und die Plots für Band zwei und drei in Entwurffassung für die nächsten Bücher.
Gönnen Sie sich eine Pause nach einem abgeschlossenen Buch, oder schreiben Sie nahtlos weiter?
Immer weiter. Schreiben ist für mich Entspannung. Es gibt kaum etwas Entspannenderes für mich, als in unserem Wochenendhaus im Wintergarten zu sitzen, das Laptop vor mir, die Finger fliegen über die Tasten, das neue Buch nimmt Gestalt und Leben an, und ab und zu einen Blick auf den See vor meiner Nase. Wenn schon nicht die Ostsee, dann wenigstens Wasser.
Sehr herzlichen Dank!