von Malin Schmidt
Kaum ein gesellschaftliches Ereignis hat die Geschichte so epochal und nachhaltig durchbrochen wie der Zweite Weltkrieg. Während Grenzen verschoben, Länder eingenommen, neue Waffen gebaut und eingesetzt wurden, erwuchs auch ein neues Ausmaß von menschlicher Diktatur.
Opfer ohne Namen
Der Zweite Weltkrieg begann im September 1939, als das Deutsche Reich sein Nachbarland Polen überfiel. In den folgenden sechs Jahren wurde überall auf der Welt gekämpft, gefoltert und gemordet. Insgesamt kamen so wahrscheinlich mehr als 70 Millionen Menschen ums Leben. Ein Großteil der Opfer waren Soldaten, die an der Front starben, unterwegs umkamen oder ihr Leben in Gefangenschaft verloren. Auch Bürger waren betroffen, etwa durch Razzien, Inhaftierungen, Entführungen, Morde, Bombenangriffe und mehr. Das vorherrschende Ziel des Weltkrieges aber war die Ausrottung des jüdischen Volkes in Europa. Schon seit der Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933 waren Juden in Deutschland dem Rassenhass, der Willkür und der Gewalt der nationasozialistischen Führung ausgesetzt. Doch ab 1939 weitete das Deutsche Reich die Verfolgung der Juden, Sinti und Roma auch in den von Deutschland besetzten Gebieten aus. Ab diesem Zeitpunkt waren diese Menschen nirgendwo in Europa mehr sicher. Stattdessen wurden sie verfolgt, getötet oder in Arbeitslager und Vernichtungslager deportiert. Insgesamt wurden mehr als sechs Millionen Juden, Sinti und Roma im Holocaust ermordet – systematisch und massenhaft. Die genaue Zahl ist nicht mehr rekonstruierbar und viele Opfer bleiben namenlos.
Kriegsende im Norden
In diesem Monat jährt sich das Kriegsende zum 75. Mal. Am 8. Mai 1945 wurde der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet. Zuvor hatte Deutschland die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Der Tag gilt auch als Tag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus, denn natürlich gab es hierzulande auch Widerstand. Für einige Menschen in Norddeutschland endete der Krieg sogar schon vorher. Denn als die Alliierten einwanderten, nahmen sie die Orte und Regionen auf ihrem Weg ins Landesinnere ein und befreiten sie. Doch nicht überall – in Flensburg dauerte es rund zwei Wochen länger.
Die Fördestadt war schon von britischen Alliiertentruppen besetzt, als ein paar deutsche Marinesoldaten durch die Straßen marschieren und „Wir fahren gegen Engeland“ singen. Es war der letzte Tag der Reichsregierung unter Admiral Karl Dönitz, der 23. Mai 1945. Und er endete mit seiner Festnahme und der Inhaftierung der anderen Regierungsmitglieder in Flensburg. Dönitz war Oberbefehlshaber der Kriegsmarine und von Adolf Hitler in seinem politischen Testament vom 29. April 1945 als Nachfolger mit dem Titel „Reichspräsident“ bestimmt worden.
An jenem 23. Mai wurden extra britische und amerikanische Kriegsberichterstatter eingeflogen. Die Alliierten wollten an diesem Tag „unwiderrufbare Bilder“ schaffen. Symbole, die das Ende Adolf Hitlers stimmungsvoll zeigten, denn für seinen Tod und das Ende seiner Diktatur gab es bislang keinen Fotobeweis. Als Schauplatz für diese symbolischen Bilder wurde der Innenhof des Flensburger Polizeipräsidiums Norderhofenden 1 gewählt. Dorthin wurden Karl Dönitz und sein Generaloberst Alfred Jodl gebracht. Der Reichsminister Albert Speer wurde aus Glücksburg dazu geholt. Die drei Männer waren der Führungsstab der Nazis in Flensburg und hatten wenige Tage zuvor noch deutsche Soldaten der Meuterei überführt und erschießen lassen.
Was die Berichterstatter damals nicht mitbekamen: Dönitz, Jodl und Speer mussten sich einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen und protestierten heftig und überzogen dagegen. Dann, in voller Uniform und Minister Speer im schicken Trenchcoat, mussten die drei mehrfach in den Hof treten und posieren, bevor das Foto endlich im Kasten war. Später wurden sie nach Bad Mohndorf in Luxemburg ausgeflogen und traten dort ihre Kriegsgefangenschaft an.
Die Pflicht der Nachgeborenen
Dieses Ereignis, das zusammen mit anderen Geschehnissen vor Ort in späteren Presseberichten als „Flensburg Fiasco“ bezeichnet wird, gilt bis heute als skurriles Ende der nationalsozialistischen Macht in Flensburg. Dennoch zeigt es auch die bahnbrechende Ironie der Zeit danach. Denn wie lebt man nach dem Krieg weiter? Wie verarbeitet man das Erlebte, das Getane, das Nicht-Getane?
Angst und Leid sind nicht kategorisierbar, nicht steigerbar in ihrer Intensität. Angst und Leid sind bereits das Maximum eines Gefühls, dessen Bedeutung wir heute – jeden Tag und bis in alle Zeit – konservieren müssen. Es soll uns und unsere Kinder mahnen und warnen und vor der Rückkehr oder der erneuten Ausbreitung des Faschismus bewahren. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat es immer wieder Bewegungen gegen das Vergessen gegeben. Doch die Zeitzeugen sterben, und das erschwert das Bewahren. Wir Nachgeborenen sind jetzt mehr denn je in der Pflicht, die Geschichte am Leben zu halten und miteinander zu teilen.
Ein Tag der Erinnerung in Schleswig-Holstein
In fünf Bundesländern ist der 8. Mai bereits ein offizieller Gedenktag: in Mecklenburg-Vorpommern seit 2002, in Brandenburg und in Thüringen seit 2015, in Bremen seit März 2020. Berlin hat ihn für dieses Jahr einmalig zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Nun setzt sich die Vorsitzende der Kieler SPD, Gesine Stück, dafür ein, dass der Tag der Befreiung auch in Schleswig-Holstein zu einem arbeitsfreien Gedenktag erklärt wird: „Wir gedenken an diesem Tag der Millionen Menschen, die von den Anhängern und Mitläufern des Nazi-Regimes aus purem Hass getötet wurden. Wir wollen, dass der 8. Mai ein besonderer Tag, ein Tag der Erinnerung bleibt. Der 8. Mai muss endlich Gedenktag werden – auch in Schleswig-Holstein!“ Mit diesem Appell richtet sich die Politikerin an Landesregierung und Landtag Schleswig-Holsteins.
Bürgerinnen und Bürger können die Initiative unterstützen und sich in eine Online-Liste eintragen: www.change.org/p/schleswig-holsteinischer-landtag-der-8-mai-muss-endlich-gedenktag-werden-auch-in-schleswig-holstein
Initiatoren der Petition sind die Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein, die Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein und die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte.