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In unserem exklusiven Interview mit Claus Ruhe Madsen, Schleswig-Holsteins Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus, sprechen wir über die drängenden Herausforderungen des Fachkräftemangels im Norden.

Herr Minister, wie stellt sich die aktuelle Fachkräftesituation in Schleswig-Holstein dar und welche Branchen sind besonders stark betroffen?

In Schleswig-Holstein ist die Lage wie in den anderen Bundesländern auch: Der Fachkräftemangel wird immer spürbarer. Die geburtenstarke Baby-Boomer-Generation geht in Rente. Gleichzeitig hat sich zum Beispiel die Zahl der Ausbildungsverträge verringert. Es gehen also mehr Menschen in den Ruhestand als neu ausgebildete Fachkräfte nachkommen. Das ist nicht nur ein Gefühl, das belegen auch die Zahlen. Wir hatten eine Studie in Auftrag gegeben, die die Entwicklung bis 2035 untersucht hat. Das Ergebnis ist, dass in Schleswig-Holstein 2035 mehr als 300.000 Arbeitskräfte fehlen könnten – wenn wir nicht gegensteuern. Die Studie zeigt auch, dass die Berufsgruppe „Erziehung, Sozialarbeit, Heilerziehung“ am stärksten vom Arbeitskräftemangel betroffen sein wird. Es folgen die Berufsgruppen „Gesundheits- und Krankenpflege“, „Büro und Sekretariat“, „Reinigung“ und „Lagerwirtschaft“.

Welche Entwicklungen konnten Sie in den letzten Jahren beobachten und gibt es regionale Unterschiede innerhalb des Bundeslands?

Das Fehlen von Fachkräften merken wir im ganzen Bundesland. Restaurants müssen an einigen Tagen schließen und ihr Speiseangebot reduzieren, im Einzelhandel werden Öffnungszeiten verkürzt, Betreuungszeiten in Kitas werden eingeschränkt und die Wartezeit für einen Termin beim Handwerker oder in der Autowerkstatt hat sich merklich verlängert. Und das alles, weil Personal fehlt. Das ist kein Zukunftsproblem mehr, wir beobachten die ersten Auswirkungen schon heute.

Welche konkreten Maßnahmen hat das Ministerium seit Ihrem Amtsantritt ergriffen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken?

Es ist erstmal wichtig zu verstehen, dass es nicht die drei, vier Maßnahmen gibt, mit denen sich das Problem Fachkräftebedarf in Luft auflöst. Nur der Mix aus verschiedenen Ansätzen kann die Arbeitskräftelücke verkleinern. Es müssen viele Rädchen gedreht werden und genau das tun wir. Wir haben zum Beispiel unser Welcome Center Schleswig-Holstein Ende 2023 eröffnet. Damit haben wir jetzt eine zentrale Anlaufstelle für internationale Fach- und Arbeitskräfte und schleswig-holsteinische Unternehmen. Das Dach für all unsere Aktivitäten bildet dabei unsere Fachkräfteinitiative Schleswig-Holstein, kurz FI.SH. Darin arbeitet die gesamte Landesregierung mit ihren Kernpartnern zusammen, wie zum Beispiel die Handwerkskammer, die Industrie- und Handelskammer, der Unternehmensverband Nord, aber auch Gewerkschaftsvertretungen und Hochschulen.

Das ist kein Zukunftsproblem mehr.
Wir beobachten die Auswirkungen schon heute.

Claus Ruhe Madsen, Schleswig-Holsteins Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus

Gemeinsam gegen den Fachkräftemangel

Wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?

Wir besprechen gemeinsam Themen wie die Aus- und Weiterbildung oder die Fachkräfteeinwanderung und konzentrieren uns auf besonders betroffene Branchen wie Handwerk, Logistik, Tourismus, Erneuerbare Energien oder Pflege. Seit meinem Amtsantritt haben wir die FI.SH weiterentwickelt und sie auch mit Finanzmitteln hinterlegt. Denn gute Ideen zu verwirklichen kostet Geld. Aktuell fördern wir unter anderem die Vermittlung von Ingenieur-Masterstudierenden an kleine und mittlere Unternehmen. Ein weiteres Beispiel ist unsere Veranstaltungsreihe „FI.SH-Impulsdialoge“, die wir ebenfalls Ende 2023 ins Leben gerufen haben. Damit wollen wir den Betrieben Impulse für die Fachkräftesicherung geben und sie beim Netzwerken unterstützen.

Wie arbeiten Sie mit anderen Ministerien, Verbänden und Bildungseinrichtungen zusammen, um nachhaltige Lösungen zu entwickeln?

Neben der FI.SH haben wir eine sogenannte interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) Fachkräftesicherung ins Leben gerufen. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich ein regelmäßiges Treffen aller beteiligten Ministerien im Land. Wir sprechen hier über alle möglichen Projekte und Themen der Fachkräftesicherung. Damit schaffen wir Transparenz und verhindern mögliche Doppelstrukturen. Und wir reden nicht nur über die Fachkräftesicherung bei Unternehmen, sondern auch unsere eigenen Fachkräfte, z.B. Lehrkräfte. Denn auch das Land als Arbeitgeber bleibt vom Fachkräftemangel nicht verschont.

Können Sie uns ein oder zwei Beispiele von Betrieben nennen, die bereits erfolgreich dem Fachkräftemangel entgegenwirken?

Schöne Beispiele für die Fachkräftezuwanderung gibt es im Nahverkehr. Bei Aktiv Bus Flensburg arbeiten mittlerweile sechs kenianische Busfahrerinnen und Busfahrer. Die AKN hat gerade ein Projekt mit potenziellen Fachkräften aus Malaysia gestartet. Ähnliche Erfolgsgeschichten gibt es auch in anderen Unternehmen, wie zum Beispiel beim Elektrounternehmen Jan Gerckens oder der Schön Klinik Rendsburg.

Was können andere Unternehmen aus diesen Erfolgsbeispielen lernen und welche Best Practices haben sich bewährt?

Immer, wenn Betriebe sich offen zeigen und bereit sind, flexibel und beharrlich Wege zum Beispiel zur Integration ausländischer Fachkräfte zu beschreiten, ist das in der Regel von Erfolg gekrönt. Häufig sind es gerade die kleinen Schritte, die den Unterschied machen. Es muss aber gar nicht direkt die große Lösung Fachkräfteeinwanderung sein. Jedes Unternehmen, das selbst ausbildet oder seine Beschäftigten qualifiziert, ist ein Erfolgsbeispiel. Oder auch Betriebe, die beispielsweise flexible Arbeitszeiten oder ein betriebliches Gesundheitsmanagement anbieten. Denn auch das sind immer wichtigere Faktoren für Beschäftigte.

Welche Strategie könnten vor allem kleine Unternehmen dabei verfolgen?

Gerade kleinere Unternehmen haben es dabei schwerer, denn sie haben keine großen Personalabteilungen, die sich um so etwas kümmern. Aber auch dafür gibt es Lösungsansätze. Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Strategie, um als Arbeitgeber attraktiver zu werden, ist die Kooperation mit den eigenen Konkurrenten. Dafür gibt es sogar ein Fachwort, die sogenannte „Coopetiton“. Ein gutes Beispiel ist das mehrfach ausgezeichnete Nordsee Kollektiv. Darin arbeiten Restaurants und Hotels in St. Peter-Ording zusammen, um Fachkräfte in die Region zu locken. Denn Fragen nach Wohnraum oder Benefits wie die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio können Arbeitgeber auch gut im Team lösen.

Junge Menschen „abholen“

Wie kann die junge Generation, insbesondere für handwerkliche Berufe, gewonnen und motiviert werden?

Ich glaube nicht, dass es ein Motivationsproblem gibt. Die „GenZ“, die jetzt anfängt zu arbeiten, ist in einen Arbeitnehmermarkt hineingeboren worden. Im Gegensatz zu früher gibt es deutlich mehr freie Stellen als Fachkräfte. Sie haben also viel mehr Wahlmöglichkeiten und machen davon auch Gebrauch, wenn ihnen die Arbeitsbedingungen oder das Gehalt nicht passen. Die Arbeitgeber sollten sich darauf einstellen und sich mehr um die Talente bemühen, als es noch vor ein paar Jahren der Fall war. Wir müssen die jungen Menschen dort ansprechen, wo sie erreichbar sind – und das ist vor allem Social Media. Auch Praktika sind ein wichtiger Faktor, insbesondere für handwerkliche Berufe. Wir bieten dafür seit diesem Jahr die Praktikumsprämie an. Die können Schülerinnen und Schüler bekommen, wenn sie in den Sommerferien fünf Tage lang ein freiwilliges Praktikum bei einem Handwerksbetrieb machen.

Welche Rolle spielen hierbei moderne Ausbildungsmodelle und duale Studiengänge in Schleswig-Holstein?

Die duale Ausbildung hat im Moment das Rennen gegen das Studium verloren. Die Zahl der Studierenden ist in den letzten 20 Jahren um 51 % gestiegen, die der Auszubildenden um 25 % gesunken. Wir müssen es also schaffen, die Vorteile einer dualen Ausbildung noch besser zu vermitteln. Gleichzeitig steigt aber auch das Interesse an einem Dualen Studium. Das kann sich das Handwerk zunutze machen, denn gerade im technischen Bereich gibt es viele Angebote. Die Fachhochschule Kiel bietet zum Beispiel 25 duale Studiengänge an. Bundesweit gibt es sogar 157 duale Studiengänge mit Handwerksbezug. Es gibt mittlerweile auch die Möglichkeit eines Trialen Studiums. Dabei wird parallel eine Berufsausbildung, ein Hochschulstudium sowie eine Aufstiegsfortbildung, also ein Meister absolviert. Fakt ist: Fachkräfte selbst auszubilden, ist ein wesentlicher Baustein für eine erfolgreiche Zukunft des Unternehmens. Und es lohnt sich, gute Angebote zu machen, die den Wünschen der potenziellen Fachkräfte entgegenkommen.

Sehen Sie Handlungsbedarf in der frühkindlichen und schulischen Bildung, um das Interesse an handwerklichen Berufen zu fördern?

Es ist wichtig, solche Themen schon früh im Rahmen der beruflichen Orientierung aufzugreifen. Jungen Menschen ist durchaus bewusst, dass eine abgeschlossene berufliche Ausbildung oder ein Studium eine wichtige Voraussetzung für langfristig gute Berufsaussichten ist. Viele tun sich aber schwer bei der Entscheidung. Welcher Beruf ist der passende? Duale Ausbildung oder Studium? Was ist, wenn mir der gewählte Beruf nicht gefällt? Welche Alternativen gibt es?

Welche langfristigen Strategien verfolgt das Ministerium, um die Arbeitsmarktattraktivität von Schleswig-Holstein zu erhöhen?

Wir haben uns das Ziel gesetzt, bis 2040 das erste klimaneutrale Industrieland zu werden. Damit werben wir und darauf richten wir auch unsere Strategien aus. Für den Arbeitsmarkt bedeutet das, dass wir Menschen brauchen, die in klimaschutzrelevanten Berufen arbeiten. Dazu zählen zum Beispiel Wärmepumpentechniker, aber auch Busfahrerinnen oder Zugpersonal. Denn zum klimaneutralen Wandel gehört auch eine Stärkung des ÖPNV. Das greifen wir auch in unserer Weiterbildungsstrategie auf, die wir gerade erarbeiten. Wir wollen und müssen einerseits Fachkräfte für kommende Anforderungen qualifizieren. Andererseits wollen wir neue, talentierte Köpfe gewinnen.

Wie bewerten Sie die Rolle der Digitalisierung und technologischen Innovationen in diesem Kontext?

Die technologischen Fortschritte haben natürlich Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Genau das verbirgt sich hinter Begriffen wie Arbeit 4.0 oder New Work. Kaum etwas hat unsere Welt so rasant verändert, wie die Digitalisierung. Und wir sind lange noch nicht am Ende. Darauf müssen wir uns einstellen. Für Fachkräfte heißt das: weiterbilden, weiterbilden, weiterbilden.

Ich glaube nicht, dass es in Zukunft weniger Jobs geben wird, weil die künstliche Intelligenz vieles übernimmt. Aber die Jobs werden anders sein. Technisches Verständnis ist nicht mehr nur Sache der IT-Abteilung. Gleichzeitig werden die Kompetenzen im Vordergrund stehen, die eben nicht ersetzt werden können. Die technische Entwicklung ist eine Chance und die sollten wir nutzen.

Ich glaube nicht, dass es ein Motivationsproblem gibt.

Claus Ruhe Madsen, Schleswig-Holsteins Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus

Das macht Hoffnung

Welche Erfolge konnten Sie seit Beginn Ihrer Amtszeit im Bereich Arbeitsmarkt und Ausbildung bereits verzeichnen?

Besonders stolz macht mich, dass es uns gelungen ist, das Welcome Center Schleswig-Holstein zu eröffnen. Wir brauchen in Schleswig-Holstein mindestens 12.000 Arbeitskräfte aus dem Ausland pro Jahr – netto, also minus derjenigen, die unser wunderschönes Bundesland verlassen. Das Welcome Center ist dabei ein ganz wichtiger Pfeiler für mich, um mehr Fachkräfte nach Schleswig-Holstein zu locken. Hier bekommen sie Hilfe und Infos aus einer Hand, ohne von Behörde zu Behörde zu laufen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft und wie planen Sie, diesen zu begegnen?

Mit Zuwanderung allein werden wir die zukünftigen Herausforderungen, die der de­mografische Wandel mit sich bringt, nicht bewältigen können. Wir müssen alle Potenziale heben, wie es immer so schön heißt. Also: Gute Angebote schaffen, damit Menschen auch über den Rentenbeginn hinaus weiterarbeiten – dieses ‚graue Gold‘ ist wertvoll. Wir müssen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die Aufteilung von Care-Arbeit verbessern und damit mehr Frauen in die Lage versetzen, arbeiten zu gehen. Wir müssen weiter- und ausbilden. Nicht alle diese Themen kann ich bzw. mein Ministerium lösen. Aber wir arbeiten in der Regierung gemeinsam daran und bieten Unternehmen Hilfestellung auf dem Weg in eine neue Arbeitswelt an.

Fotos: Peter Lühr

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