Ob als Radiokolumnistin der NDR-Kultkolumne „Hör mal’n beten to!“, auf der Bühne mit gesellschaftskritischem Kabarett oder mit ihrem neuen Buch „Sei der Wind, nicht das Fähnchen“: Annie Heger, Paradiesvogel unter den ostfriesischen Möwen, macht ganz schön viel Wind.
Annie Heger ist Künstlerin mit Leib und Seele und fester Bestandteil der norddeutschen Kulturszene. Dass die Entertainerin in ihrem Leben schon zahlreiche dramatische Tiefschläge erleben musste, sieht man der selbstbewussten, starken Frau heute nicht an: Mit 13 Jahren erhielt Annie Heger die Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 – eine Krankheit, die in vielen Fällen zur Erblindung führen kann.
In Ihrem neuen Buch „Sei der Wind, nicht das Fähnchen“ befassen Sie sich mit schwierigen Lebensphasen, was war für Sie der primäre Grund für dieses Werk?
Ich wollte, dass Menschen Bock darauf bekommen, diese Welt mitzugestalten und selbst Wind zu machen. Die Welt braucht uns. Letztendlich schreibe ich in dem Buch von meinen Kraft gebenden Säulen in der Hoffnung, dass Menschen sich wiederfinden und sich dadurch auf ihrem Weg bestärkt und ermächtigt fühlen und andere sich kräftig durchpusten lassen von Geschichten über gesunde Wut und herrlich-leichtem Übermut. Auch wenn das Buch weit davon entfernt ist, ein Lebensratgeber zu sein, steckt ein bisschen Rat zwischen den Buchseiten … und ein paar vom ganzen Wind aufgescheuchte, leuchtende Glitzerpailletten, die von meinen Kostümen gefallen sind in den letzten Jahren.
Wie haben Ihre eigenen Lebenserfahrungen, insbesondere die Diagnose Diabetes mellitus Typ 1, Ihr Leben beeinflusst?
Sie haben mich so sehr beeinflusst, dass ich sie fast nicht geschafft hätte. Da muss man gar nichts schönreden, ich hatte diesen Herausforderungen nicht viel Substanz entgegenzusetzen – weder mit meinem Körpergewicht noch stählernen Nervenseilen. Ich musste und muss jeden Tag lernen, wie eine kleine Maßlosigkeit oder einfach schier nichts, was ich beeinflussen kann, zu lebensbedrohlichen Situationen führen kann. Ich habe große Leidenschaften dadurch entwickelt. Ich habe zum Beispiel deswegen gerne alles andere mit Passion unter Kontrolle, will nichts und niemanden in meinem Leben verpassen, habe einen Wissensdurst nach medizinischen Zusammenhängen und kann mich völlig in der wochenlangen Planung und der für mich magischen und meditativen Zubereitung von Mahlzeiten verlieren.
Was haben Sie im Umgang mit Ihrer Krankheit gelernt?
Erst einmal: Spritzen, Kohlenhydrate berechnen, Mengenlehre, Augenmaß, Blutzucker messen, Hypoglykämien rechtzeitig erspüren, Verzicht, zehn Schritte vorausdenken, mich gegen Stigmatisierungen zu wehren und Barrierearmut für andere mitzudenken. Obendrauf: Dass Kapazitäten sich so stark erschöpfen können, dass die von außen betrachteten, doch so einfachen Aufgaben des Alltags kaum zu bewältigen sind. Kurz: Auf dem Sofa liegen bleiben hat einen Grund, immer.
Was würden Sie Ihren Leser*innen raten, die sich vielleicht auch gerade eher als „Fähnchen im Wind“ fühlen?
Es ist okay, überfordert zu sein und nicht zu wissen, wo man überhaupt anfangen soll, die ganzen Brände zu löschen. Und wenn’s eben nicht geht, weil das Leben einen zu sehr fordert und schafft und es nur zu bewältigen ist, wenn man sich dem Wind einfach hingibt, dann lasst euch zumindest ein bisschen von rechts nach links wehen. Dann geht gesellschaftspolitisch nicht so viel kaputt, während ihr (noch) keine Kraft habt, selbst standhaft zu sein.
Gibt es ein norddeutsches Sprichwort, vielleicht eine Art Motto, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Oh, das gibt es so viele. Einige habe ich auch in meinem Buch stehen, sozusagen als kleinen Bildungsauftrag, den ich damit erfülle, und als Beitrag, damit die plattdeutsche Sprache eine Form bekommt. „Een bietje scheef hett Gott leev!“ (Ein bisschen schief hat Gott lieb!), das ist mir jedoch eins meiner liebsten und lässt sich auf so viele(s) anwenden.
Annie Heger: Sei der Wind, nicht das Fähnchen. Und wenn nicht: Kurs bestimmen, Segel setzen!
bene!, 192 S., 21 Euro