Fotos: Adobe Stock (1) / Natalie Zahnow (1) / Michael Ermel (1) / Niederdeutsche Bühne Kiel (1) / Anna Biß/SHHB (2)

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Wie die Meere, das platte Land und der Wind gehört das Niederdeutsche zur Identität des Nordens dazu. Doch könnte der Regionalsprache das Aussterben drohen. Um das zu verhindern und das kulturelle Erbe zu erhalten, wird auch an vielen Bühnen dieses Landes investiert – in den Nachwuchs.

Eines Mittwochnachmittags: Die halbe Stadt will nach Feierabend noch mal schnell in den Supermarkt springen, auch ich gehöre dazu und haste durch die Obst- und Gemüseabteilung. Während ich überlege, ob ich meiner Familie die erste Kürbissuppe des Jahres oder doch einen Salat kredenzen werde, muss ich plötzlich aufhorchen – und schmunzeln. Mitten im Trubel der Einkaufs-Rushhour stehen zwei ältere Herren vorm Konservenregal und halten ganz gemütlich einen Schnack – op Plattdüütsch. 

Hätten wir nicht kürzlich in der Redaktionskonferenz das Thema dieses Artikels beschlossen, hätte ich diese Situation vielleicht nicht so detektivisch beäugt. Die Gefühle, die sich bei der Beobachtung des Gesprächs in mir regen, kommen aber von Herzen: Geborgenheit, Ruhe und eine gewisse Erdung machen sich breit und regen mein Interesse an diesen beiden fremden Menschen. Und das, obwohl sie nur gerade besprechen, was am vergangenen Wochenende alles so im Garten zu tun war.

Muttersprache Niederdeutsch: Ein generationsübergreifender Wandel

Viele Niederdeutsche Bühnen führen ihre Weihnachtsmärchen auf Hochdeutsch auf. 2019 begeisterte in Neumünster „Räuber Hotzenplotz“ – mit dabei auch Jungschauspieler*innen.

Ein anderes Erlebnis fällt mir dabei ein: am Nebentisch eines Restaurants eine Herrenrunde, die rüstigen Senioren tauschen Geschichten aus ihrer Schulzeit aus. „As ik na School keem, heff ik överhaupt nix verstahn. Dor heff ik achteran to mien Modder seggt: Dor gah ik nich wedder hin!“, erzählt einer der Männer. Seine Freunde nicken verständnisvoll. Diese frühkindliche Anekdote, mal nebenbei am Stammtisch geteilt, offenbart einen krassen Generationenwandel, der sich in nur wenigen Jahrzehnten klammheimlich vollzogen hat.

Zwar ist das Hochdeutsche schon lange die sogenannte Standardsprache in Schleswig-Holstein, doch sind viele gebürtige Schleswig-Holsteiner*innen älterer Generationen noch mit dem Niederdeutschen als Alltagssprache aufgewachsen. Und was ihnen dann bei Eintritt in die Schule begegnete, war oft nicht weniger als eine Fremdsprache. 

Sprachen im Wandel: Warum Plattdeutsch heute seltener gesprochen wird

Stolz präsentiert das Team der Niederdeutschen Bühne Neumünster das neue Programm: Rainer Goebel, Dr. Norbert Spilok, Ansgar Menke (Sparkasse Südholstein), Susanne Reimers, Mareike und Rieke Münz, Birgitt Jürs (v. l.).

Heute ist das Bild ein ganz anderes, das Plattdeutsche hat den Rückzug angetreten und wird vornehmlich noch unter Älteren gesprochen. Gründe gibt es dafür viele, als Motoren des Wandels werden häufig etwa der rasante technische Fortschritt und die damit einhergehende Globalisierung genannt. Doch haben sich nicht wenige Menschen auch ganz bewusst dafür entschieden, ihr sprachliches Erbe nicht an die nächste Generation weiterzugeben. Lange galt Plattsprechen nämlich als unfein, manche Eltern sprachen deswegen Hochdeutsch mit ihren Kindern, um deren schulische und berufliche Perspektiven nicht zu gefährden. Sie taten dies also mit bestem Gewissen, ohne zu ahnen, dass sie damit zugleich die Wurzeln der Sprachkultur beschnitten. 

Mittlerweile weiß nicht nur die Wissenschaft um die Bedeutung früher Mehrsprachigkeit und der Regionalsprachen: Immer mehr Menschen machen sich stark für die Wiederbelebung. Liedermacher*innen, Shanty-Chöre, Kabarettist*innen, Poetry-Slams, Stammtische, Radio, Podcasts und Romane – diese und zahlreiche weitere Akteure und Medien holen das Plattdeutsche wieder ins Heute. Dabei ist eine Zielgruppe ganz besonders wichtig: der Nachwuchs.

Magie des Theaters: Plattdeutsch auf der Bühne

Britta Poggensee kam vor mehr als zehn Jahren durch Zufall zum Theater und teilt ihre Leidenschaft bei Projekten wie der „Niederdeutschen Theaterwerkstatt“.
Britta Poggensee kam vor mehr als zehn Jahren durch Zufall zum Theater und teilt ihre Leidenschaft bei Projekten wie der „Niederdeutschen Theaterwerkstatt“.

Es ist Mitte September, in gemütlicher Runde präsentiert der Vorstand der Niederdeutschen Bühne Neumünster der Presse das Programm der anstehenden Spielzeit. Viele schöne Stücke hat das engagierte Ensemble wieder auf die Beine gestellt, beliebte plattdeutsche Klassiker werden ebenso auf die Bühne des altehrwürdigen Theaters gebracht wie spannende Neuinszenierungen. Schon seit dem Sommer stark nachgefragt, sind Karten für das alljährliche Weihnachtsmärchen. In diesem Jahr dürfen sich Märchenfreund*innen auf Cornelia Funkes „Käpten Knitterbart und seine Bande“ freuen – wie bei vielen anderen Niederdeutschen Bühnen auch, wird das Weihnachtsstück traditionell in hochdeutscher Sprache aufgeführt. 

Die Begeisterung der Kinder für die liebevoll inszenierten Märchen ist groß, die Darbietung im Hochdeutschen ermöglicht es allen, ohne sprachliche Hürden in die fantasievollen Geschichten einzutauchen und die Magie des Theaters zu erleben. Doch freuen sich die Niederdeutschen Bühnen des Landes nicht nur über junge Theaterbegeisterte im Publikum – sondern auch über Nachwuchs auf der Bühne. 

Begeisterung entfachen: Jugendtheatergruppe der Niederdeutschen Bühne

Neben dem vielfältigen Spielplan berichtet das ehrenamtlich arbeitende Theater-Team an diesem Tag deswegen auch über ein besonderes Projekt: Bereits seit einigen Jahren leiten Schauspielerin und Theaterregisseurin Birgit Bockmann und NBN-Vorstandsmitglied Susanne Reimers eine Jugendtheatergruppe. Bislang kamen die theaterbegeisterten Jugendlichen zwischen 10 und 20 Jahren einmal wöchentlich an der Niederdeutschen Bühne zusammen. „Ab Oktober treffen wir uns nun einmal im Monat am Samstag und dann gleich für drei Stunden“, berichtet Jugendkoordinatorin Reimers. So bliebe mehr Zeit für das gemeinsame Arbeiten, die jungen Menschen könnten sich intensiver mit dem Theaterspiel auseinandersetzen. 

Susanne Reimers gehört seit 17 Jahren zum Ensemble, vor über drei Jahrzehnten hat sie die Schauspielerei am plattdeutschen Theater für sich entdeckt. Damals noch in einer kleinen Theatergruppe auf dem Dorf – und das, ohne Muttersprachlerin zu sein. „Ganz zu Anfang habe ich mir meinen Text in Lautschrift aufgeschrieben“, erzählt Susanne Reimers. Und genau so machen es auch viele der Nachwuchsschauspieler*innen, denn die meisten kennen das Plattdeutsche eben – wenn überhaupt – nur von Oma und Opa. Deswegen steht die Sprache in der Jugendarbeit zu Beginn noch gar nicht im Fokus. Regisseurin Bockmann und Susanne Reimers geben den jungen Menschen erst einmal Raum, um in sicherem Rahmen erste Erfahrungen auf der Bühne zu machen und schauspielerisches Handwerkszeug zu lernen. Und dann irgendwann wird auch die Sprache integriert und durch das Schauspiel kreativ erlebt. So in das „fremde“ Niederdeutsch einzutauchen, ermöglicht ein behutsames wie auch unmittelbares, nachhaltiges Entdecken der Sprache.

Ein Bühnenprogramm in fünf Tagen: Niederdeutsche Theaterwerkstatt für Kinder

In wenigen Tagen wurden aus den Ferienkindern der Theaterwerkstatt an der Niederdeutschen Bühne Kiel selbstbewusste Schauspieler*innen.
In wenigen Tagen wurden aus den Ferienkindern der Theaterwerkstatt an der Niederdeutschen Bühne Kiel selbstbewusste Schauspieler*innen.

Szenenwechsel. Wo sonst Sommerpause herrscht, war ausnahmsweise emsiges Treiben zu beobachten: Während der Sommerferien öffnete die Niederdeutsche Bühne am Wilhelmplatz in Kiel einer Schar Kinder ihre Pforten: Bei der „Niederdeutschen Theaterwerkstatt“ kamen im Rahmen des Ferienpasses der Landeshauptstadt Grundschüler*innen im Alter von sieben bis elf Jahren zusammen und schnupperten zum ersten Mal Bühnenluft. Insgesamt vier Tage erkundete der Nachwuchs die unterschiedlichen Aufgabenbereiche: Die Kinder führten Regie, entwickelten Texte, kreierten Kostüme, gestalteten das Bühnenbild – und traten selbstverständlich auch auf die Bühne. 

Platt gesnackt wurde in Improvisationsübungen, die Projektleiterin Britta Poggensee und Darstellerin Karen Ehlers mit den Kindern durchführten. Am fünften Tag folgte der große Auftritt vor echtem Publikum mit drei kleinen, selbst entwickelten Stücken – sogar inklusive einiger mutig vorgetragener Passagen op Nedderdüütsch. „Was wir besonders wahrgenommen haben, war, wie sich die Bühnenpräsenz der Kinder wandelte, von Tag zu Tag wurden sie selbstsicherer“, erinnert sich Britta Poggensee, „und am Ende konnte sich das ein oder andere Kind sogar vorstellen, mal Platt zu lernen.“ 

Britta Poggensee studierte Frisistik und Skandinavistik, ist Referentin für Niederdeutsch und Friesisch beim Schleswig-Holsteinischen Heimatbund (SHBB) und stellvertretende Bühnenleiterin des Theaters. Und nicht nur beruflich vom Fach: Plattdeutsch ist das Zuhause der 35-Jährigen, es ist die Sprache, mit der sie aufgewachsen ist. Anders als bei vielen anderen Menschen in ihrem Alter spielt ihre „Muttersprache“ auch außerhalb der Bühne weiterhin eine große Rolle: „Für mich ist Plattdeutsch meine Alltagssprache. Ich spreche Platt mit meiner Familie. Und auch mit meinem Hund“, erzählt Britta Poggensee lachend.

Gute Überlebenschancen: Politische und kreative Initiativen


Stolze Landessieger*innen: Tjark Holm, Carla Völcker und Emma Thomsen (v. l.) sicherten sich beim Schulwettbewerb „Schölers leest Platt“ jeweils den ersten Platz in ihren Altersklassen.

„Die Zukunft des Plattdeutschen sehe ich gar nicht als so düster“, sagt die leidenschaftliche Schauspielerin. „Es gibt so viele Projekte und Initiativen, und auch politisch gibt es großes Interesse daran, die Sprache zu erhalten.“ Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist ein Modellprojekt des schleswig-holsteinischen Kultusministeriums, im Rahmen dessen an insgesamt 51 Modellschulen Niederdeutsch als Schulfach angeboten wird. Von der ersten bis zur sechsten Klasse werden die Kinder hier von „Paul un Emma“, den Titelfiguren der eigens entwickelten Lehrbücher, beim Erwerb der Regionalsprache begleitet. Geplant ist zudem, das bereits bestehende Modellschulangebot sogar bis zur Oberstufe auszuweiten.

Mit vielen anderen kreativen Initiativen wird die Liebe zur Sprache in den Jüngsten geweckt, so etwa mit dem Vorlesewettbewerb „Schölers leest Platt“. Bereits zum 23. Mal hat der SHBB den alle zwei Jahre stattfindenden Wettbewerb veranstaltet. Mehr als 1000 Schüler*innen aus 200 Schulen haben dafür im letzten Jahr mit ihren liebsten plattdeutschen Geschichten um die Wette gelesen, Anfang Juni fand das große Finale mit drei stolzen Sieger*innen statt. 

In Zukunft auf Platt: Hoffnung für die nächsten Generationen

All das große Engagement, das die Förderung des Plattdeutschen mit Herzblut trägt, macht Hoffnung, dass die Sprache auch in den nachfolgenden Generationen tiefe Wurzeln schlägt – und wir dann nicht mehr über einen Klönschnack im Supermarkt schmunzeln, sondern mit unseren Kindern beim Abendbrot darüber streiten, „worüm wi schon wedder den blöden Salat eten mööt“. Wat weer dat schöön!


Ab auf die Bühne
Ob jung oder alt, die Niederdeutschen Bühnen freuen sich immer über neue Talente. Tolle Kinder- und Jugendprojekte werden an vielen Bühnen geboten und begeistern für die plattdeutsche Kultur. Mehr Informationen zu den Niederdeutschen Bühnen im Land finden Sie unter www.buehnenbund.com. Ausführlicheres zu Projekten und Aktionen rund um die Regionalsprachen in Schleswig-Holstein erhalten Sie außerdem auf www.heimatbund.de.


Von Natalie Zahnow

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