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von Marion Laß

Mit dem neuen, fiktiven Roman „Die Gräfin“ von Irma Nelles rückt nun auch das Leben der echten Diana Gräfin zu Reventlow-Criminil wieder mehr in den Fokus der Öffentlichkeit.

Zahlreiche Mythen ranken sich um die Aristokratin, die 1910 im Alter von 47 Jahren auf die Hallig Südfall zieht und in den Wirren des Zweiten Weltkrieges einem abgestürzten englischen Flieger im Watt Asyl bietet und ihn vor den Deutschen versteckt. Prof. Dr. Thomas Steensen ist Historiker und Kenner der nordfriesischen Geschichte. Er gibt Einblicke in die Welt der „echten“ Hallig-Gräfin.

Herr Prof. Dr. Steensen, wer war die Frau, die von 1910 bis zu ihrem Tod im August 1953 auf der Hallig Südfall lebte und um die sich so viele Geschichten ranken?

Diana Gräfin von Reventlow-Criminil entstammte einer alten holsteinischen Adels­familie. Sie wurde 1863 in Preetz geboren. Ihr Vater war Gutsbesitzer auf Gut Emkendorf, ihre Mutter kam aus Schottland. In jungen Jahren ist sie wohl viel umhergereist, galt als schön, extravagant und unnahbar. Auffällig für damalige Zeiten war, dass sie trotz „standesgemäßer“ Heiratsanträge ledig blieb.

Warum kam sie nach Nordstrand beziehungsweise Südfall?

Anscheinend wurde sie des höfischen Lebens überdrüssig und tauschte es im Alter von 47 Jahren mit der Einsamkeit der Hallig Südfall ein. Sie erwarb das kleine Eiland vor Nordstrand und verbrachte dort die Sommermonate, später zog sie sogar ganzjährig dorthin. Auf der Püttenwarft, fast in Blickweite zur Hallig, besaß sie zusätzlich einen Hof auf Nordstrand.

Die Hallig Südfall liegt mitten in der Nordsee zwischen Nordstrand und Pellworm. Um dorthin zu kommen, geht es zu Fuß oder per Kutsche bei Ebbe durch das Wattenmeer.

Wovon hat sie gelebt?

Von ihrem Vermögen und wohl von etwas Viehwirtschaft. Auf der einzigen Warft der Hallig lebte sie mit Köchin, Hausmädchen, Kutscher und Gouvernante, außerdem mit zwei Hunden, Pferden und Hühnern.

Was wissen wir heute noch über die Gräfin?

Uns sind einige Aussagen damaliger Zeitzeugen überliefert. Sie soll zum Beispiel jeden Morgen in einer Wanne mit frischem Nordseewasser gebadet haben, das ihr der Kutscher in Eimern holte. Bis wenige Tage vor ihrem Tod soll sie daran festgehalten haben, genauso wie an ihren täglichen Spaziergängen über die Hallig und das Watt.
Der frühere Bürgermeister von Nordstrand, Willi Hansen, berichtete einmal von ihr: „Comtesse ließ sich in allem bedienen; sie ließ sich kämmen, waschen und anziehen, aber täglich um drei Uhr griff sie in den Halligalltag ihrer Dienerschaft ein und fütterte selbst ihr geliebtes Hühnervolk.“
Doch sie hatte auch Humor, was diese Geschichte beweist: Ein Schiffer von Pellworm namens Julius Hahn hatte sein Boot auf den Namen „Diana“ getauft und erhoffte ein Patengeschenk der Gräfin. Sie sagte ihm zu, sich etwas Passendes ausdenken zu wollen. Bei seinem nächsten Besuch auf Südfall zeigte die Gräfin ihm einen prächtigen Hahn, den sie von Nordstrand bekommen hatte. Da sie so viel von ihm halte, habe sie ihn Julius genannt. „Sie sind jetzt, mein lieber Hahn, Pate zu meinem Hahn von Nordstrand, und somit sind wir quitt“, soll sie gesagt haben.

Was weiß man noch von ihr?

Sie hat den Nordstrander Bauern Andreas Busch schon in den frühen 1920er Jahren bei seinen Forschungen nach dem bei der Sturmflut 1362 untergegangenen Rungholt unterstützt. Auch ihr Neffe Victor von Reventlow-Criminil (1916–1992) kam mehrfach nach Südfall, um Siedlungsspuren im Wattenmeer zu suchen.

Warft und Fething auf der Hallig Südfall heute. Foto: Thomas Steensen

Das klingt ein bisschen nach einer Abenteurerin, oder?

Vielleicht. Sie war auf jeden Fall eine mutige Frau. Es wird nämlich auch berichtet, dass sie im Alter von 73 Jahren bei der Sturmflut am 18. Oktober 1936 bei ihren Pferden im Stall war, um sie zu beruhigen – dabei soll sie bis zum Bauch im Nordseewasser gestanden haben. Und aus Husum ist die Episode überliefert, dass sie beim Betreten eines Geschäftes mit „Guten Morgen!“ gegrüßt hatte, ihr aber ein lautes „Heil Hitler!“ entgegengerufen wurde. Sie soll gefragt haben: „Was hat der damit zu tun?“ In der damaligen Zeit war das nicht ungefährlich.

Was hat es mit dem englischen Piloten im Roman von Irma Nelles auf sich? Gab es ihn tatsächlich?

Die Gräfin bot wohl einem im Watt bei Südfall abgestürzten britischen Flieger im Zweiten Weltkrieg einige Wochen lang Asyl. Das ist belegt. Er soll, so erzählte man sich, 1943 oder 1944 im Schlick eine Flöte gefunden haben, die vom untergegangenen Rungholt stammte, eine Okarina. Als er darauf spielte, wurde Diana auf ihn aufmerksam und rettete ihn. Die Geschichte ist jedoch ein Produkt der Fantasie, zumindest was die Okarina betrifft.

Wie wurde die Gräfin von ihrem Umfeld wahrgenommen?

Sie wurde sehr geachtet. Ihren 90. Geburtstag beging man 1953 in großer Gesellschaft auf Südfall. Aus nah und fern kamen die Gäste. „Unglaublich“, schrieb ihr Neffe Victor, „wie sie von allen Leuten gefeiert wurde. Wenn man bedenkt, dass sie nie einen Menschen geliebt hat, ist es doch seltsam, wie sie geliebt wurde …“. Wenige Wochen später starb Diana von Reventlow-Criminil auf ihrer Hallig. Im Nachruf ihrer Bediensteten hieß es: „Jahrzehntelang war sie uns allen eine stets hilfsbereite Arbeitgeberin und mütterliche Freundin. […] Und wie den Menschen ihrer näheren und weiteren Umgebung galt ihre Fürsorge auch allen Tieren. […] Ihr Andenken wird nie erlöschen.“

Hat man sie auf ihrer geliebten Hallig begraben?

Nein, ihr Grab befindet sich in der Emkendorfer Pfarrkirche in Westensee. Die Erben der Gräfin verkauften die Hallig 1954 an das Land Schleswig-Holstein. Das alte Hallighaus wurde 1959 wegen Baufälligkeit abgerissen und durch ein Gebäude mit Schutzraum ersetzt. Die Gräfin hatte über ihren Tod hinaus ihrer Betreuerin und ihrem Kutscher Wohnrecht eingeräumt.

Danke für die Exkursion in die Geschichte.


Die Gräfin

Sommer 1944, nordfriesisches Wattenmeer: Inmitten der Wirren des Zweiten Weltkrieges stürzt der englische Pilot John Philip Gunter vor der Hallig Südfall ab. Dort lebt die 80-jährige Gräfin Diana von Reventlow-Criminil.

Irma Nelles: Die Gräfin
hanserblau Verlag, 176 S., 20 Euro, Neuerscheinung August 2024

Ihre Tage auf dem elterlichen Gut Emkendorf, geprägt von Standeszwängen, hat Gräfin Diana gegen ein bäuerliches Leben auf der kleinen Hallig Südfall vor der nordfriesischen Insel Nordstrand eingetauscht. Dort lebt sie im Rhythmus der Gezeiten, nur umgeben von ihrem Kutscher Maschmann, dem Hausmädchen Meta und den Pferden. Das Leben auf der Hallig ist hart und heftige Stürme drohen immer wieder, das wenige verbliebene Land wegzuspülen. Doch auf diesem abgeschiedenen Flecken Erde glaubt die Gräfin nicht nur ihrem früheren Leben, sondern auch dem ihr verhassten Naziregime entfliehen zu können. Von hier aus bringt sie mithilfe nordischer Schmuggler Dissidenten und jüdische Flüchtlinge über das Meer in Sicherheit.
Als sie bei einem Ausritt ein abgestürztes Flugzeug im Watt entdeckt, nimmt sie den verletzten Piloten bei sich auf. Während sie den misstrauischen Briten namens John pflegt, regen sich in der Gräfin verborgene Gefühle. Doch Diana weiß ihre Zuneigung zu dem viel jüngeren Mann kaum zu äußern; ganz anders Meta, die zum Schmerz der Gräfin eine Liebschaft mit John beginnt.
Doch der Soldat fühlt sich auf der Hallig eingesperrt, fürchtet, in einen Hinterhalt geraten zu sein – schließlich sind die Deutschen doch seine Feinde. Und auch Kutscher Maschmann gefällt die Anwesenheit des alliierten Soldaten nicht, in dem er eine Gefahr für ihre kleine Gemeinschaft vermutet …


Über die Autorin
Irma Nelles (1946–2024) wuchs auf der Insel Nordstrand auf und arbeitete nach ihrer Ausbildung zur Grundschullehrerin zunächst in der Leserbrief-Redaktion des Spiegel, später als Redakteurin im Büro von Rudolf Augstein. Von dieser Zeit handelt ihr Memoir „Der Herausgeber. Erinnerungen an Rudolf Augstein“. Ihr spätes Romandebüt „Die Gräfin“ schrieb sie im Alter von 78 Jahren. Leider verstarb die Autorin kurz vor Erscheinen des Romans.


Fotos: Kreisarchiv Nordfriesland (2) , Prof. Dr. Thomas Steensen (1),
Adobe Stock (1), hanserblau Verlag (1), Stefanie Bachmeier (1)

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