Julia Crüsemann ist eine besondere Frau. Das merke ich nicht nur an ihrer warmen Stimme, die tief und raumgreifend klingt, sondern auch an ihrem sympathischen Schmunzeln, das mich durch den Telefonhörer erreicht. Ich durfte mit der Lübeckerin über ihren Beruf sprechen – und der scheint ebenso besonders zu sein wie meine Gesprächspartnerin selbst.
Seit über zehn Jahren ist Julia Crüsemann Souffleuse am Musiktheater Lübeck. Der Weg dahin war alles andere als herkömmlich, denn es gibt keine richtige Berufsausbildung, die zu dieser Tätigkeit führt. Stattdessen kommt man eher auf Umwegen zum Soufflieren. So war es auch bei Julia Crüsemann. Jahrelang lebte sie in Namibia und leistete dort Entwicklungsarbeit. Später arbeitete sie am Theater im afrikanischen Windhoek. Als sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurückgekehrt war, begann sie am Theater Lübeck. Nach Einsätzen in der Regieassistenz und der Theaterinspizienz gelangte sie zum Soufflieren in der Musiksparte. Seither übt Crüsemann diesen Job mit viel Leidenschaft und höchster Kompetenz aus.
Ungesehen, aber unabdingbar
Als Souffleuse ist Julia Crüsemann wichtig für den reibungslosen Ablauf einer Musikproduktion: Sie sagt den Sängerinnen oder Sängern ihren Text an, wenn sie ihn vergessen, und hält damit das Stück am Laufen. Von ihrem Platz seitlich zur Bühne hat Crüsemann alles im Blick. Für das Publikum bleibt sie dort aber unsichtbar. Auch ihre zum Teil lauten Einrufe hören die Zuschauer*innen nicht – der Orchestergraben mit vielen Musizierenden und Instrumenten wirkt wie ein Schallschutz zwischen Bühne und Publikum.
Jeder Einsatz sitzt
Anders als beim Schauspiel, wo die Souffleuse erst auf Blickkontakt des Schauspielenden hin eher leise aktiv wird, muss Julia Crüsemann am Musiktheater mehr tun. Sie ist jede Sekunde hochkonzentriert, kennt jede Note und jedes Wort der Produktion. Auftaktig ruft sie die ersten Laute oder Worte des Textes für die Musiker*innen auf die Bühne. Dafür hat sie ihren „Klavierauszug“ vor sich, ein Buch mit Text und Noten der jeweiligen Oper oder Operette, in dem sie auch individuelle Bemerkungen festhält. Wo ist eine Kunstpause angesetzt, an welchen Stellen braucht ein bestimmter Sänger oft Unterstützung, was gilt es noch zu beachten? So kann Julia Crüsemanns einzige Vertretung einspringen, sollte sie selbst einmal ausfallen.
Seltener Job
Viele Souffeusen gibt es nicht, am ganzen Lübecker Theater nur drei. Neben ihren zwei Kolleginnen im Schauspiel meistert Julia Crüsemann den Job am Musiktheater als einzige. Ihre Vertretung ist eine Sängerin im Ruhestand. Viele Souffleusen kommen nach der Beendigung ihrer Gesangskarriere zu dieser neuen Tätigkeit hinter den Kulissen. Das ist naheliegend, denn die Musiker*innen verfügen über eine umfangreiche Kenntnis von Musik, Melodien oder Kompositionen und können Noten lesen. Eine gute Souffleuse ist zudem aufmerksam, sie bemerkt jedes kleinste Detail und reagiert flexibel. Letzteres bezieht sich auch auf die Arbeitszeiten, denn die nehmen oft ganze Abende ein. So begleitet Julia Crüsemann jede Produktion schon vom ersten Probentag an. Diese dauern in der Regel sechs bis acht Wochen, dann muss ein Stück sitzen und es geht zur Generalprobe und schließlich zur Premiere. Die Proben finden täglich in zwei Blöcken vormittags und abends statt. Die zweite Probe entfällt, wenn eine Aufführung am Abend ansteht. Dann ist Julia Crüsemann natürlich auch dabei.
Eine Künstlerin unter Künstlern
Man könnte meinen, dass Julia Crüsemann einen seltenen freien Abend gern abseits der Bühne verbringt. Doch die Lübeckerin liebt nicht nur ihren Beruf, sondern auch ihre Branche. Deshalb besucht sie das Theater auch gern in ihrer Freizeit. Es ist eine besondere Welt, die sich hier offenbart – mit viel Raum für Spannung, Bewegung und Gefühle, für Fantasie und Lebenslust. Die Arbeit am Lübecker Theater ist multikulturell und vielseitig, die Menschen leidenschaftlich und ambitioniert. Die Mitwirkenden sind Teamplayer aus der ganzen Welt. Eine von ihnen ist Julia Crüsemann, eine Künstlerin unter Künstlern.
Viva la Mamma!
Wie sehr Julia Crüsemann ihren Beruf und ihren Arbeitsplatz liebt, erkenne ich auch, als sie von der aktuellen Produktion erzählt. Gerade befindet sich sich in den Proben für „Viva la Mamma!“, eine „Opera buffa“ von Gaetano Donizetti. Erstmals 1831 in Mailand aufgeführt, kommt sie am 8. Oktober am Theater Lübeck zur Premiere. Es geht um die Sitten und Unsitten des Theaters, die in dieser Opernparodie ans Tageslicht kommen und von den Figuren gnadenlos ausgelacht werden – szenisch und musikalisch. Seit Donizettis Lebzeiten hat sich einiges im Opernbetrieb verändert. Doch Selbstironie muss sein: Die Lübecker Regisseurin Effi Méndez wird dafür sorgen, dass sowohl erfahrene Opernfreund*innen als auch neugierige Newcomer manche Klischees erkennen und diese (äußerst glaubwürdigen!) Bühnenangelegenheiten mit herzlichem Gelächter beantworten. Das Publikum erwartet absurder Witz, scharfe Satire, Slapstick und natürlich ganz viel echte Oper!
Ich jedenfalls mache mich jetzt auf die Suche nach einer Theaterkarte.
Tickets können ab dem 1. September online gebucht werden.
>> www.theaterluebeck.de