Konzentriertes Zuhören beim Konzert der Sommer-Big-Band im Biergarten 2017. © Helga Wendler

Sie tun es überall – im Café, an der Bushaltestelle, im Wartezimmer beim Arzt oder im Park. Bewaffnet mit Stift und Papier zeigen Urban Sketcher die Welt, Zeichnung für Zeichnung. Ob mit Bleistift, Tinte, Aquarell oder auf dem Tablet – die Materialien und Techniken sind so vielfältig wie die Urban Sketcher selbst und ihre Motive. Gemeinsam sind ihnen aber zwei wesentliche Dinge: Vor Ort nach direkter Beobachtung zu zeichnen und sich miteinander auszutauschen.

Die Welt zeichnend zu entdecken ist eine wunderbare entschleunigte Art, sich mit der Umwelt bewusst auseinanderzusetzen. Das intensive Erleben des Augenblicks, die Konzentration auf das Hier und Jetzt – das macht für viele die Faszination am Urban Sketching aus. Man schaut genau hin, entdeckt Details, die auf den ersten Blick verborgen bleiben. Selbst vertraute Orte offenbaren so völlig unbekannte Perspektiven. Wer zeichnet, statt nur einen schnellen Schnappschuss zu machen, nimmt mehr wahr: Die Veränderung der Farben, als die Sonne hinter der Wolkendecke hervorbricht. Der Vogelschwarm, der plötzlich auffliegt. Die Bewegung des Papiers, als ein Windhauch aufkommt und den Geruch nach getrocknetem Laub herüberträgt. All diese Sinneseindrücke fließen in die Zeichnung ein. Wer zeichnet, kann sich an alles erinnern – den Ort, die Farben, die Stimmung, Geräusche und Gerüche. Und am Ende bleibt nicht nur die angefertigte Skizze auf dem Papier, sondern auch eine tiefempfundene Erinnerung an genau diesen Ort zu genau dieser Zeit.

Visuelle Chroniken

Urban Sketcher haben ihren Skizzenblock immer dabei – auf dem Weg zur Arbeit, bei der Kaffeepause, auf dem Wochenmarkt oder auf Reisen. So entstehen ganze Tagebücher und visuelle Chroniken eines Lebens. Urban Sketching ist nicht lediglich eine besondere Kunsttechnik, sondern eine weltweite Gemeinschaft. Die Bewegung wurde 2007 von einem spanischen Journalisten und Künstler ins Leben gerufen und vernetzt mittlerweile tausende Menschen aller Herren Länder. Auf der internationalen Non-Profit-Plattform www.urbansketchers.org veröffentlichen 100 ausgewählte KünstlerInnen regelmäßig ihre Werke und zeigen die Welt durch ihre Augen. Die Zeichnungen entstehen nach den Grundsätzen der Urban Sketcher.

Angeregtes Gespräch auf der Terrasse eines Cafés. © Helga Wendler

Das Manifest von Urban Sketchers

✎ Wir zeichnen vor Ort, drinnen oder draußen, nach
direkter Beobachtung.
✎ Unsere Zeichnungen erzählen die Geschichte unserer Umgebung, der Orte an denen wir leben oder zu denen
wir reisen.
✎ Unsere Zeichnungen sind eine Aufzeichnung der Zeit
und des Ortes.
✎ Wir bezeugen unsere Umwelt wahrhaftig.
✎ Wir benutzen alle Arten von Medien.
✎ Wir unterstützen einander und zeichnen zusammen.
✎ Wir veröffentlichen unsere Zeichnungen online.
✎ Wir zeigen die Welt, Zeichnung für Zeichnung.

Beim Urban Sketching geht es nicht in erster Linie darum, einfach nur ein schönes Bild zu zeichnen, sondern Momentaufnahmen des täglichen Lebens einzufangen. Man könnte es als eine Art visuellen Journalismus bezeichnen, der das Leben durch die Augen der Zeichnenden zeigt. Die Urban Sketcher zeichnen nicht nach Fotovorlagen oder arrangierten Szenen. Ihre Werke entstehen nicht in Ateliers hinter verschlossenen Türen, sondern direkt vor Ort. Das unmittelbare Erleben ist den Urban Sketchern sehr wichtig. Und wer so mitten im Geschehen zeichnet, bekommt oft auch Kontakt zu seiner Umgebung. Wer sich statt über sein Smartphone über einen Skizzenblock beugt, kann den ein oder anderen neugierigen Blick von Passanten ernten. Daraus können sich interessante Gespräche ergeben.

Zeichnen verbindet

Austausch ist der Szene sehr wichtig. Zu den Grundsätzen gehört nicht nur, dass die Zeichnungen vor Ort entstehen, sondern auch, dass sie geteilt werden. Neben dem internationalen Blog sind mittlerweile viele weitere nationale und regionale Blogs, Social-Media-Gruppen und lokale Gruppen entstanden. Bei Facebook findet man Gruppen in Hamburg, Kiel, Eutin und Lübeck. Der Großteil der Urban Sketcher ist interaktiv und viele treffen sich zum gemeinsamen Zeichnen. Egal ob professioneller Künstler oder Amateur, was zählt ist die Freude am Zeichnen. Die Gemeinschaft ist offen für alle. Bei den Treffen zeichnen Architektinnen, Buchhalter, Busfahrerinnen, Rentner und Schülerinnen nebeneinander. Wenn Urban Sketcher gemeinsam skizzieren, freuen sie sich am Ende nicht über die schönste Zeichnung, sondern über die überraschende Vielfalt. Derselbe Ort, dieselbe Zeit und doch entstehen Bilder mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Techniken. Die Vernetzung ermöglicht es, sich auch auf Reisen mit Gleichgesinnten zu treffen. Egal wo der Urban Sketcher unterwegs ist, er kann immer Kontakt zu lokalen Gruppen aufnehmen. Viele Volkshochschulen, Kunstschulen und freie Künstler bieten Workshops und Kurse zum Urban Sketching an.

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