Auf den ersten Blick wirkt der kleine Küstenkreis doch recht beschaulich. Wer noch einmal hinsieht, erkennt, wie bedeutungsvoll sich Dithmarschen zeigt. Zum größten zusammenhängenden Kohlanbaugebiet Europas und einem UNESCO-Weltnaturerbe – dem Nationalpark Wattenmeer – gesellt sich nun ein weiterer „Knaller“ mit nationaler Bedeutung hinzu: das Reallabor Westküste 100.

Das Projekt „Reallabor Westküste 100“ soll ausgehend von Heide die Energiewende für ganz Deutschland maßgeblich bestimmen. Ziel ist es, mithilfe überschüssiger Windenergie aus Schleswig-Holstein Wasserstoff zu produzieren, um aus diesem und weiteren Nebenprodukten die Energieversorgung der Zukunft auf einen „grüneren“ Weg zu bringen. Der Bund fördert das Vorhaben mit insgesamt 30 Millionen Euro und deckt damit etwa ein Drittel der geplanten Gesamtkosten ab. 

Im Gespräch mit Projektkoordinator und Geschäftsführer der Raffinerie Heide, Jürgen Wollschläger, erfuhr Lebensart-Redakteurin Nicole Groth, wie Wasserstoff gewonnen wird und was das Reallabor für Dithmarschen, uns Nordlichter und die ganze Nation bedeutet.  

Projektkoordinator und Geschäftsführer der Raffinerie Heide, Jürgen Wollschläger, sieht das „Reallabor Westküste 100“ als Vorbild für andere Standorte – im Sinne einer grünen Zukunft und einer starken Wirtschaftskraft.

Herr Wollschläger, aus welchem Impuls heraus ist die Idee zum Reallabor entstanden?

Als Raffinerie beschäftigten wir uns schon lange mit dem Thema synthetische Kraftstoffe. Ziel war es von Anfang an, die Energiewende und damit auch unsere Zukunft als Raffinerie mitgestalten zu können. Der erste Schritt zur Herstellung synthetischer Kraftstoffe war für uns immer die Gewinnung „grünen“, also mit Hilfe von Windenergie und damit CO2 neutralem Wasserstoff.  

Vor etwas mehr als zwei Jahren haben wir uns dann an einem Ideenwettbewerb der Bundesregierung im Rahmen des 7. Energieforschungsprogramms beteiligt. Daraus ist dann Stück für Stück die Idee geboren worden, an diesem Standort eines der Reallabore der Energiewende für Deutschland zu werden. 

Warum haben gerade die beteiligten Firmen ein verstärktes Interesse an der Realisierung des Projekt?

Alle zehn Projektpartner eint, dass sie sich mit der Frage nach der eigenen Zukunft und dem Thema „Grüner Wasserstoff“ beschäftigen. Wir alle wollen an der Energiewende in Europa aktiv mitwirken und sehen den grünen Wasserstoff als strategische Perspektive für Deutschland und für unsere Unternehmen. 

Warum ist die Westküste in besonderer Weise für die Projektumsetzung geeignet?

Weil wir hier viel Windenergie und damit viel grünen Strom um uns herum haben. So viel Strom, dass die Windräder hier an der Westküste zum Teil abgeschaltet werden müssen, weil zu viel produziert wird. Diesen Strom wollen wir nutzen, um damit grünen Wasserstoff zu machen. Den grünen Wasserstoff können wir dann wiederum zur Herstellung unserer Kraftstoffe nutzen. Die Expertise dazu haben wir. Wir können sowohl mit Wasserstoff umgehen als auch Kraftstoffe herstellen. Wir haben als Raffinerie die gesamte Infrastruktur dafür. 

Wie haben Sie sich gefühlt, als die Zusage vom Bund zur Förderung des Projektes kam? 

Ganz ehrlich? Erleichtert! Wir haben als Raffinerie Heide jahrelang hart dafür gearbeitet. Wir haben uns mit Experten ausgetauscht, Partner gesucht, mit der Politik verhandelt und letztendlich ein umfangreiches, komplexes Projekt aufgesetzt. Dass das jetzt Unterstützung von der Bundesregierung erhält, ist für uns alle eine tolle Nachricht. 

Wie sehen seit der Zusage die nächsten konkreten Handlungsschritte aus? 

Wir arbeiten jetzt ab, was wir uns vorgenommen haben. Vor der Zusage für die Fördergelder durften wir keine konkreten Schritte einleiten. Jetzt können wir in die konkrete Planungsphase für das Projekt gehen. Sie müssen sich das wie den Bau eines Hauses vorstellen. Zuerst bespricht man seine Pläne mit der Bank. Wenn man dann die Zusage für die Finanzierung hat, beginnt die genaue Planung und dann geht es an die Umsetzung beziehungsweise den Bau. Genauso ist das bei uns auch. Wir haben grünes Licht für die Finanzierung bekommen und jetzt beginnt die Feinplanung. 

Als nächster „großer“ Schritt steh die Installation einer Elektrolyseanlage auf dem Gelände der Raffinerie Hemmingstedt an. Sie soll Windenergie in Wasserstoff umwandeln.

Auf dem Gelände der Raffinerie Heide wird eine 30 MW-Elektrolyseanlage installiert. Diese zerlegt Wasser mit Hilfe von Strom in seine Bestandteile, nämlich Sauerstoff und Wasserstoff. Beide Komponenten können dann weiter genutzt werden.

Wie genau geht das vonstatten? 

Bei der Elektrolyse handelt es sich um ein sehr altes, chemisches Verfahren, mit dem Wasser mit Hilfe von Strom in seine Bestandteile, nämlich Sauerstoff und Wasserstoff zerlegt wird. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch an das Knallgas-Experiment im Chemieunterricht. Wenn man Wasser mit Hilfe des Stroms in seine Elemente Wasserstoff und Sauerstoff aufteilt, kann man den Wasserstoff zum Beispiel in einem Reagenzglas oder einer Glaswanne auffangen. Wenn der Wasserstoff sich dann wieder mit dem Sauerstoff aus der Umgebungsluft vermischt, kommt es zu einer chemischen Reaktion, einem Knall. Dieses Sauerstoff-Wasserstoff-Gemisch ist hochexplosiv. 

Das Verfahren wurde schon Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt und es ist für uns hier oben im „Wind-Land“ Schleswig-Holstein ideal zur Herstellung von Wasserstoff. Durch die Windenergie haben wir eine Menge Stromkapazitäten, die derzeit nicht genutzt werden. Dieser überschüssige Strom spaltet in einem Elektrolyseur Wasser, also H2O, in Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O). Diese beiden Komponenten können dann weiter genutzt werden. 

Bei diesen zwei Komponenten bleibt es aber nicht. Das Projekt ist doch noch vielschichtiger, richtig?

Ja, der Ansatz des Reallabors Westküste 100 ist ganzheitlich: Die mit Hilfe von Windkraft erzeugte, regenerative Energie soll genutzt werden, um bei uns in der Raffinerie Heide grünen Wasserstoff zu erzeugen. Ziel ist es, ein Wasserstoffnetz zwischen der Raffinerie, den Stadtwerken Heide, einem Kavernen-, also unterirdischem Speichersystem und dem bestehenden Erdgasnetz aufzubauen. 

Außerdem wird geprüft, ob der bei der Elektrolyse ebenfalls produzierte Sauerstoff in den Verbrennungsprozess eines regionalen Zementwerks eingespeist werden kann, wodurch die Stickoxid-Emission des Werkes deutlich reduziert werden könnte. Das im Zementwerk so entstandene Kohlendioxid (CO2) soll im Gegenzug als Rohstoff zusammen mit dem grünen Wasserstoff in der Raffinerie zur Herstellung synthetischer Kohlenwasserstoffe zum Beispiel für Flugkraftstoff eingesetzt werden. Damit wäre ein Teil der Produktion des Zementwerkes und ein Teil des Flugverkehrs CO2-neutral. 

Und zu guter Letzt: Bei der Elektrolyse entsteht außerdem Wärme, die als Abwärme in das Wärmenetz unserer Nachbarn zum Heizen von Schwimmbädern oder großen Gewächshäusern eingespeist werden kann. 

Angedacht ist zunächst eine 30MW-Anlage zu installieren. Welches Ergebnis erzielt eine Elektrolyseanlage dieser Größenordnung?

Um vielleicht einmal einen Maßstab zu schaffen: Würde die 30 MW-Anlage jetzt schon stehen, wäre es die größte Elektrolyseanlage der Welt. Welches Ergebnis man erzielt, ist allerdings immer eine Frage der Fahrweise. Unser Ziel ist es, einen Teil unseres Wasserstoffbedarfs in der Raffinerie Heide mit Hilfe der Elektrolyse durch grünen Wasserstoff zu ersetzen. Sicher ist, dass mit der 30 MW-Anlage etwa 31.000 Tonnen CO2 pro Jahr eingespart werden. 

Wann kann erstmalig ein Nutzen aus der Anlage gezogen werden?

Wir planen und rechnen damit, dass 2023 eine Elektrolyseanlage bei uns in der Raffinerie Heide stehen wird.

Sie denken bereits größer: Geplant ist eine 700 MW-Anlage zu errichten. Was kann diese wiederum abdecken?

Eine 700 MW-Anlage ist unsere Vision und dabei denken wir an ein Zeitfenster von ungefähr zehn Jahren. Für den Betrieb einer 700 MW-Anlage wird rund eine Million Tonnen CO2 pro Jahr aus der Luft aufgenommen. Wenn wir eine solche Anlage betreiben würden, würden wir rund ein Drittel der vor Corona an den Hamburger Flughafen gelieferten Menge Kerosin durch grünes, also synthetisches Kerosin abdecken können. Um diese Vision umzusetzen, brauchen wir die Erfahrungen aus der 30 MW-Anlage. Wir gehen also bei dem Projekt Westküste 100 Schritt für Schritt vor und nutzen die gewonnen Erkenntnisse aus dem Reallabor-Projekt, um weitere, größere Projekte planen und umsetzen zu können. Alles mit dem Ziel, als Raffinerie nachhaltige Kraftstoffe zu produzieren und damit die Energiewende in Deutschland mitzugestalten. 

Wem kommt die „grüne Energie“ zugute?

Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: uns allen. Wenn wir als Raffinerie diesen Weg weiter beschreiten können, werden wir alle nachhaltig, also CO2 neutral, fliegen, fahren und heizen können. 

Was wird die Realisierung des Projektes für die Westküste bedeuten?

Das Projekt Westküste 100 ist ein Projekt zur Standortsicherung. An der Westküste könnte eine nationale Wasserstoffindustrie entstehen, die Arbeitsplätze sichert und schafft und damit nicht nur das Überleben unsers Unternehmens, sondern die Wirtschaftskraft unserer gesamten Region sichert und stärkt. 

Möchten Sie Vorbildcharakter sein für andere Standorte?

Als Reallabor der Energiewende für Deutschland sind wir Vorbild für andere Standorte. Wir überprüfen unter realen Bedingungen, ob sich die Produktion grünen Wasserstoffs im industriellen Maßstab lohnt. Auf uns und unsere Ergebnisse schauen die Bundesregierung und viele andere Unternehmen. 

Projektpartner des Reallabors Westküste 100

EDF Deutschland GmbH
Fachhochschule Westküste
Holcim Deutschland Gruppe
OGE,Ørsted
Raffinerie Heide GmbH
Entwicklungsagentur Region Heide
Stadtwerke Heide GmbH
thyssenkrupp
Thüga Aktiengesellschaft

www.westkueste100.de

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