„Nicht schon wieder…“, dachte Sandy, als sie aus dem Augenwinkel die Großfamilie erspähte, die bis an die Zähne bewaffnet mit Decken, Taschen, wuchtigen Kühlboxen und Schwimmflügeln auf sie zumarschierte. Selbst aus dieser Entfernung war der Gruppe der bedingungslose Wille nach Erholung ins Gesicht geschrieben.
Was für die Familie der Inbegriff eines glücklichen Tages war, bedeutet für das Sandkorn Sandy das genaue Gegenteil. Der Tag war versaut, soviel stand fest. Die Menschen waren groß, laut, rücksichtslos und benahmen sich wie die Herren des Strandes. Die Badegäste nahmen einem die Sicht, warfen achtlos nasse Badesachen auf einen drauf und wenn man nicht durch einen gewagten Move rechtzeitig auswich, deformierten klebrige Kinderhände einen zu grotesken Gebäuden, die hinterher mit großem Geschrei wieder zerstört wurden. Dann gab es da noch diese närrisch Verliebten, die verträumt ihre Namen in den Sand malten. Vor einem Jahr war Sandy eine gefühlte Ewigkeit lang in der Vertiefung eines missglückten „R“s gefangen gewesen. Tagelang hatte sie kaum Luft bekommen und war gemeinsam mit ihren Leidensgenossen zu einer festen Kruste erstarrt. Erst nach Tagen hatten Wind und Regen sie aus dieser misslichen Lage befreit. Was für ein Albtraum!
Auf Sand gebaut
Sandy fühlte sich verkannt und war mit ihrem Dasein unzufrieden. Was nutzte ihr die exklusive Lage am Travemünder Strand, wenn die Menschen ihr den wunderbaren Blick auf die Ostsee versperrten und – schlimmer noch – sie mit Füßen traten? Da mochte ihr Opa Sander sie noch so oft an ihre jahrtausendealte Familiengeschichte erinnern – was half ihr das? „Was ist so ein kurzes Menschenleben im Vergleich zu den zehntausenden von Jahren, auf die wir Sandkörner zurückblicken können?“, hatte sie seine Stimme im Ohr. „Am Ende der letzten Eiszeit sind wir es gewesen, die nach der großen Schmelze dieses Gebiet verlandet haben. Erst dadurch war es Menschen möglich, sich hier einen Lebensraum zu schaffen. Vergiss das nie.“ Darauf folgte dann stets eine stundenlange Abhandlung über die geologische Erdzeitgeschichte und die herausragende Rolle des Sandes bei der Entstehung Schleswig-Holsteins. Es tröstete Sandy aber nicht, auf eine große Geschichte zurückzublicken, sie wollte JETZT etwas erleben, sie wollte JETZT etwas Bedeutendes sein.
Sand im Getriebe
Die meisten Sandkörner in ihrem Umfeld waren zufrieden mit ihrem Dasein zwischen Strandkörben und klebrigen Eiscremeflecken und waren glücklich, wenn sie kurze architektonische Höhenflüge in einer dilettantischen Sandburg erlebten. Vielleicht lag diese latente Unzufriedenheit bei Sandy ja in der Familie, denn in ihrer Verwandtschaft gab es eine gewisse Häufung an ungewöhnlichen Lebenswegen.
Ihr Lieblings-Cousin Sandro war vor drei Jahren plötzlich verschwunden und es ging das Gerücht um, er mache jetzt Karriere in einer Strandbar in Hamburg. Auch ihre Tante Sandra hatte neue Wege eingeschlagen und fand schließlich Erfüllung in einer Sanduhr, was ihrem leicht zwanghaften und pedantischen Naturell entgegenkam. Einen Teil ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits hatte es sogar bis in die Sahara verschlagen. Ihrem Instagram Account war deutlich zu entnehmen, dass sie sich zwischen Wüstenwind, Kamelhufen und Oasen sichtlich wohl fühlten.
Alle schienen ihren Platz gefunden zu haben, nur Sandy darbte noch am Ostseestrand und haderte mit ihrem Schicksal. In ihrem kleinen Sandkornherzen spürte sie, dass sie zu Größerem berufen war. Sie wusste nur nicht, zu was. Alle ihre bisherigen Versuche, etwas an ihrer Lage zu verändern, waren im Sande verlaufen.
Während Sandy ihren trübsinnigen Gedanken nachhing, verlor sie für einen Moment ihre Aufmerksamkeit und – zack – war es passiert. Jemand aus der Großfamilie hatte achtlos eine Zeitschrift in den Sand geschmissen, direkt auf die gedankenverlorene Sandy. Der unvermittelte Schlag brachte sie ins Taumeln und ehe sie sich versah, war sie zwischen die Seiten geraten. Bevor alles um sie herum dunkel wurde und sie das Bewusstsein verlor, konnte sie aus dem Augenwinkel noch den Schriftzug „Lebensart im Norden“ entziffern…
Sanduhrfigur
So bekam Sandy nicht mit, wie sie zusammen mit der Zeitschrift aufgehoben, zusammengerollt in einer Hosentasche gesteckt und davongetragen wurde. Als sie aus ihrem Koma erwachte, vernahm sie dumpfe Stimmen und hatte den Geschmack von Druckerschwärze auf der Zunge. Unter dem Aufgebot all ihrer Kräfte
kletterte Sandy auf dem glatten Papier nach oben, bis sie am oberen Ende angekommen war. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und entkam in einem waghalsigen Sprung ihrem papiernen Gefängnis. Wild wirbelte sie durch die Luft, bis sie etwas unsanft zu Boden ging. In einem raschen Rundumblick sondierte Sandy ihre Lage. Sie befand sich in einer großen überdachten Halle, in der Berge an Sand aufgetürmt waren. Vereinzelt hockten Menschen dazwischen und werkelten an den Sandbergen herum. Noch bevor Sandy einen weiteren Gedanken fassen konnte, kam ein Schatten auf sie zu und sie wurde in die Luft gehoben. Ein Paar starker Männerhände hatte sie gepackt, sie wurde geknautscht, geknetet und gedrückt, dass ihr ganz schwindelig wurde. Und dann war schlagartig alles ruhig, die Hände hatten sie losgelassen und nachdem Sandy sich gefasst hatte, blickte sie sich vorsichtig um.
Sie war an der obersten Spitze einer kolossalen Sandskulptur gelandet – einem furchteinflößenden Monster – halb Mensch, halb Tintenfisch, dem statt Haaren lange Tentakeln aus dem Gesicht wuchsen. Von ihrer prominenten Position aus hatte Sandy einen perfekten Überblick, links konnte sie den Meeresgott Poseidon erkennen und war das da hinten nicht das Holstentor?
Das hier waren keine matschigen Sandfiguren aus Kinderhand, das hier war Kunst. Und Sandy war ein Teil davon. Und dann wusste sie: Das hier war er, ihr großer Moment. Jetzt hatte ihr Hadern ein Ende, ihr Sehnen war erhört worden, das hier war die Erfüllung ihrer Träume. Genau für diesen Moment war sie bestimmt. Sich der Bedeutung diesen Augenblickes vollkommen gewiss, hielt sie ganz still und lächelte mit Stolz und Siegessicherheit in das Blitzlichtgewitter der Fotografen.