Als „Dschungelkind“ erlangte sie Bekanntheit, ihr erstes autobiografisches Buch wurde ein weltweiter Erfolg und sogar fürs Kino verfilmt. Nun kehrt die Wahl-Hamburgerin mit einer Geschichte zurück, die fast schon zu unglaublich ist, um wahr zu sein. Ein Porträt über eine faszinierend starke Frau und ihr facettenreiches Leben.
An einem schicksalsträchtigen Scheideweg befndet sich Sabine Kuegler, als sie am Ende ihrer Kräfte und ihrer Lebensenergie ist: Wofür soll sie sich entscheiden, für das Leben oder den Tod? Der Einstieg in die Geschichte, die die 51-Jährige in ihrem aktuellen Werk „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ erzählt, ist so dramatisch wie mitreißend. Atemlos und gespannt verfolgt man die Reise, zu der sich die von europäischen Ärzten totgeweihte Frau im Jahr 2012 aufmacht. Den Ursprung ihrer Erkrankung vermutet man im Urwald, sodass sie sich mit letzter Kraft und Hoffnung auf den Weg in ihre Seelenheimat macht, um vielleicht doch Heilung zu finden.
Eine Kindheit im Urwald
Geboren 1972 in Nepal, beginnt schon Sabine Kueglers Leben gänzlich anders als das der meisten anderen Kinder deutscher Eltern. Mutter Doris und Vater Klaus arbeiten als Missionare, Klaus Kuegler ist zudem als Sprachforscher tätig. Als ihre Zeit in Nepal endet, macht sich Vater Klaus auf den Weg in den Urwald von West-Papua, um einen noch unerforschten Stamm kennenzulernen – die Fayu. Der Kontakt verläuft erfolgreich, nach einigen Monaten holt er die Familie nach und der Lebensmittelpunkt der Kueglers verlagert sich für viele Jahre mitten in den Dschungel.
Und hier nun wächst Sabine Kuegler mit ihren Geschwistern auf, entfaltet sich in der Gemeinschaft des Naturvolks und erlebt in den prägenden Jahren des Aufwachsens zur jungen Frau schon unendlich viele filmreife Geschichten – kein Wunder also, dass ihr erstes Buch aus dem Jahr 2005 wenige Jahre später fürs Kino adaptiert wird. Als junge Frau dann verlässt sie ihren Stamm und macht ihren Schulabschluss in der Schweiz. Der Kulturschock macht es der jungen Frau schwer – innen Stammesfrau, außen unscheinbare Europäerin. So gut es geht, passt sie sich an und geht ihren Weg, wird im Laufe der Jahre Mutter von vier Kindern.
Auf der Suche nach Heilung
Irgendwann dann wird sie immer wieder krank, in Schüben kehren die Symptome wieder und machen ihr das Leben zur Hölle. Sie holt sich Hilfe, eilt von Arzt zu Arzt – doch niemand findet eine Erklärung. Ein unbekannter Parasit wird vermutet, aber Heilung gibt es nicht. Aufgeben ist für sie jedoch keine Option. „Für sie wollte ich leben“, schreibt Kuegler in ihrem Buch und meint damit ihre Kinder. Sie beschließt, ihrer letzten Hoffnung zu folgen und sich an die Stammesvölker auf Neuguinea zu wenden. Sie gibt ihre Kinder in väterliche Obhut und macht sich auf den langen Weg in die Hauptstadt Port Moresby zu ihrem langjährigen Freund Micky, der sie auf der Suche nach Hilfe unterstützen möchte. Doch ahnt niemand, dass diese Reise ihren Wegbereiter und sie über fünf Jahre von Ort zu Ort führen würde. Eine mitreißende Odyssee voll unglaublicher Begegnungen, Abenteuer und spannender Einblicke in vielfältige Stammessysteme.
Feste Bande
In den verschiedenen Büchern, die Sabine Kuegler in den letzten beiden Jahrzehnten veröffentlicht hat, ist ein wiederkehrendes Motiv der stete Spagat zwischen den Kulturen. Von Zerrissenheit ist häufig die Rede – doch vielmehr scheinen ihr die Jahre der Reflexion und Weiterentwicklung gutes Rüstzeug angelegt zu haben, um unbeschadet zwischen den Welten wandeln zu können. Die Orientierungslosigkeit von einst ist einem gut ausgeloteten Kompass gewichen, der sie zu einer hervorragenden Mittlerin macht.
Hauptsache Erholung: Von weichen Matratzen und gestärkter Wäsche konnte Sabine Kuegler auf ihrer langen Reise oft nur träumen.
Und doch, trotz ihres Wissens und ihrer Erfahrungen, braucht auch sie Eingewöhnungszeit, wenn sie den Kulturraum wechselt, wie sie in einem Telefonat für dieses Porträt verrät: „Es ist einfach eine andere Welt. Wenn ich in einem Stamm bin, dann bin ich ganz anders, ich schlüpfe in eine andere Rolle. Dort bin zum Beispiel sehr stark in einer klassischen Frauenrolle drin. Vieles, was ich da mache, wäre hier undenkbar! Wenn vor mir etwa Männer gehen, dann darf ich sie keinesfalls überholen, das würde sonst als provokativ empfunden werden.“ Einige Zeit nehme es in Anspruch, sich nicht nur ans Wetter, sondern auch an das kulturelle Klima zu gewöhnen. Aber dann sei sie im Stammesleben drin und genieße das gemeinschaftliche Leben sehr.
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„Viele fragen sich ja oft: Wieso wirken Naturvölker, Menschen aus Stammeskulturen in Ländern wie Indonesien oder Neuguinea so glücklich und zufrieden? Und sagen dann: Ach ja, die haben ja nix, kein Geld, keinen Luxus – bestimmt ist es das. Aber das ist ein falsches Bild“, erklärt Kuegler. Ihre Beobachtung sei, dass gerade jene Gesellschaften, die ihren Fokus auf eine starke Gemeinschaft legten, die größte Zufriedenheit ausstrahlen würden. „Auch hier bei uns ist es ja gar nicht lang her, dass die Menschen in Großfamilien lebten.“
Frauen hier und dort
Genau das Fehlen dieser verlässlichen Gemeinschaft habe sie nach ihrer Rückkehr in die westliche Welt jedes Mal wieder am stärksten geplagt: „Wenn man in einem Stamm lebt, dann passiert vieles automatisch. Man wird einfach in die Strukturen hineingeboren und wächst in seine Rolle. Ich habe also niemals gelernt, mir selbst etwas aufzubauen, denn es war immer alles schon da. Und als ich hierher kam, war das plötzlich anders.“
Aufgewachsen sind ihre eigenen Kinder in Europa, sodass Kuegler auch hier den direkten kulturellen Vergleich liefern kann: „Bin ich Teil eines Stamms, habe Kinder und kann mal nicht da sein, muss ich mir keine Gedanken machen – die Kinder werden ja von der ganzen Gruppe aufgezogen, nicht nur von Mutter und Vater. Und gerade für die Kinder ist so eine Großfamilie einfach ideal, sie wachsen mit so vielen Bezugspersonen auf.“ Zwar gebe es bei uns alternativ dazu Unterstützung vom Staat, allerdings sei es den Frauen in den westlichen Staaten keine ausreichende Hilfe, der Druck sei einfach zu groß. „Als ich alleinerziehend war, war das brutal, es war unglaublich hart. Wenn man für alles allein verantwortlich ist, Kinder, Schule, Unterhalt, Kleidung, Essen – es ist so unglaublich viel, zu viel!“
Wie bei vielen Naturvölkern gibt es beim Stamm der Fayu eine klare Rollenverteilung: Ausnahmslos Männer dürfen auf die Jagd gehen. Die Ausbildung beginnt bereits in der Kindheit.
Sind wir Frauen im Westen denn eigentlich freier als die Stammesfrauen? „Grundsätzlich ja, wir haben mehr Freiheiten, aber haben es trotzdem manchmal schwerer als die Frauen in den Stämmen. Sicher, sie müssen vor allem viel körperlich arbeiten. Aber dafür haben wir hier viel mehr zu kämpfen, an allen Fronten, uns plagen so viele Unsicherheiten“, sagt Kuegler, möchte aber auch deutlich machen, dass sie diesen kulturellen Unterschied nicht nur kritisch sieht: „Ich habe lange unter Heimweh nach meinem Stamm gelitten. Das habe ich jetzt nicht mehr, ich bin eigentlich ganz glücklich in der westlichen Welt. Ich sehe die Freiheiten, die Vorteile und den Luxus, den wir hier haben.“ Gerade das persönliche Entwicklungspotenzial, sich für einen Beruf entscheiden zu können, dort zu leben, wo man möchte, all das nahezu frei wählen zu können, sei natürlich ein großer Vorteil unserer Gesellschaft – aber eben gleichzeitig auch eine immense Herausforderung.
Lange ist Kuegler ihrer Jagd-Leidenschaft nicht nachgegangen. Bis zu diesem Tag, an dem sie einen Flughund erbeutete – eine Delikatesse.
Dass die Rollenverteilung in vielen Kulturen wie bei den Fayu immer noch sehr streng geregelt ist, betrachtet Kuegler verständnisvoll. Auch wenn sie das als Kind ganz anders sah. Als die Fayu dieses „farblose“, kleine Wesen noch nicht wirklich zuordnen konnten und sich nicht sicher waren, ob Junge oder Mädchen vor ihnen stand, erlaubten sie, dass Sabine in der Jagd ausgebildet werden durfte. Eine Faszination entfachte in dem jungen Mädchen, die bis heute eine tief verwurzelte Leidenschaft geblieben ist. Als sie jedoch in die Pubertät kam, wurde ihr das Jagen strikt untersagt, denn das ist Aufgabe der Männer, ohne Ausnahme. Ein großer Konflikt entstand, der Sabine nicht nur ihr liebstes Hobby entsagte, sondern sie in eine Rolle zwang, die ihr nicht gefiel.
„Heute sehe ich es anders, denn ich weiß mittlerweile, dass in diesen Gesellschaften, die noch sehr ursprünglich leben, diese Rollenverteilung von enormer Wichtigkeit ist“, erläutert Kuegler. Die festen Aufgaben, die die Stammesstruktur vorgebe, würden nicht nur Orientierung bieten, sondern sicherten schlicht und ergreifend das Überleben des gesamten Stamms.
Nachhaltig helfen
Gewidmet ist Kueglers aktuelles Werk einem der wichtigsten Protagonisten ihrer Erzählung: ihrem Freund und Geschäftspartner Micky. Obwohl ihre gemeinsame Geschichte am Ende ihrer Reise und des Buchs dramatisch endet, verwundert es nicht, dass Sabine Kuegler fast ein Jahrzehnt nach dem Geschehen während unseres Telefongesprächs erzählt, dass sie anschließend einen Call mit Micky habe. Noch heute verbindet die beiden nicht nur ihre jahrelange Freundschaft und ihre Liebe zu den Stammestraditionen, sondern vor allem ihr großer Wunsch, den Menschen im Südpazifik ein gutes Leben zu sichern: „Wenn man von hier auf die Menschen dort blickt, könnte man meinen, sie seien arm dran. Zwar sind sie wirtschaftlich gesehen arm, aber sie haben genug, um zu leben. Sie haben nicht diese existenzielle Angst, wie wir sie haben, wenn wir kein Geld besitzen.“
Und doch seien auch für die Menschen dort andere Zeiten angebrochen, die ein Umdenken nötig machten. Finanzielle Sicherheit müsse geschaffen werden, vor allem für Schul- und Weiterbildung, „denn nur so können sie ihr Land, ihre Traditionen und sich selbst schützen.“ Schon Kueglers Eltern waren diesen Weg der Hilfe zur Selbsthilfe in ihrer missionarischen Arbeit gegangen und waren damit Vorbild für ihre Tochter. Über viele Jahre haben Sabine Kuegler und Geschäftspartner Micky intensiv recherchiert, mit welchen Mitteln sie den strukturellen Schwächen begegnen könnten, ohne jedoch Kultur und Umwelt zu zerstören. Eines ihrer Projekte steht nun kurz vor der Fertigstellung: „Auf den Salomoninseln bauen wir dafür aktuell eine Kakaofabrik“, berichtet die Unternehmerin. „Wir versuchen Wege zu finden, wie die Menschen Geld verdienen können, ohne dass sie ihre Dörfer verlassen müssen. Die Kakaofabrik ist dafür nun eine Art Vorzeigeprojekt, mit dem wir eine ganze Provinz stärken.“
Im Norden zu Hause
Doch zurück nach Deutschland. Das Bild eines immerwährenden Sommers trägt sich durch ihre Bücher, von Kindheit an war Sabine Kuegler tropische Temperaturen gewöhnt. Wieso also lebt sie jetzt im kühlen, verregneten Hamburg? „Als ich damals zurückkam, war da natürlich die Frage: Wo möchte ich hin? Ich hätte nach Köln, München oder sonst wohin gehen können, aber für mich war gleich klar: Ich komme in den Norden“, erzählt die Autorin, ihrer Stimme hört man dabei ein Schmunzeln an. „Vielleicht ist es doch so, dass das irgendwie genetisch ist“, ergänzt sie lachend.
Sehr nostalgische Gefühle sind mit Norddeutschland verknüpft: „Vielleicht liegt es auch daran, dass ich meine Großmutter so mit dem Norden verbinde. Sie lebte in Bad Segeberg, ich war als Kind so gerne bei ihr und habe schöne Erinnerungen daran.“ Auf die Frage, ob sie ein norddeutsches Lieblingsgericht habe, weiß sie sofort Antwort: „Ich bin kulinarisch in Asien geprägt worden und esse fast ausschließlich asiatisch, aber: Ich bin ein großer Fan von Ente, die gab es bei meiner Großmutter immer zu Weihnachten“, schwärmt Sabine Kuegler. „Selbst im tiefsten Urwald habe ich mal gedacht: Ente mit Rotkohl wie von Oma wäre jetzt schön.“
Mit dem Klischee, dass die Norddeutschen unterkühlt und zurückhaltend seien, kann sie nichts anfangen: „Gerade hier in Hamburg treffe ich so viele Menschen, die unglaublich freundlich und offen sind. Wenn ich mit Freunden ausgehe, dann habe ich am Ende des Tages immer neue Freundschaften geschlossen.“ Vielleicht habe dieses besondere Flair, das gerade die Hansestadt ausstrahlt, auch mit der Weltoffenheit durch den Hafen zu tun, aber ganz sicher weiß Sabine Kuegler: „Der kühle Norddeutsche – ich weiß ja nicht, ob das vielleicht nur ein Mythos ist.“
Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind
Schon mit ihrem ersten autobiografischen Buch „Dschungelkind“ begeisterte sie weltweit Millionen Leser*innen.
Knapp zwei Jahrzehnte später erzählt Sabine Kuegler ihre unglaubliche Geschichte weiter – mitreißend und lehrreich.
Westend Verlag, 298 S., 24 Euro