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Im Debütroman „Im Schatten der Insel“ der Hamburgerin Turid Müller spielen Demenz und die Geschehnisse rund um die Kinderverschickung in den 50er-Jahren eine zentrale Rolle.
Damit hat die Psychologin und Autorin einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung geleistet. Wir sprachen mit ihr über die Grenzen von Fakten und Fiktion, ihre Beziehung zur Protagonistin und ihrem ganz persönlichen Antrieb.

Lebensart: Sie haben bereits Ratgeber zum Thema Narzissmus herausgebracht. Wie hat sich der Prozess des Schreibens eines Krimis zu dem eines Ratgebers unterschieden?

Turid Müller: Ob Ratgeber oder Roman – beide erfordern intensive Auseinandersetzung und eine umfassende Recherche, denn auch Belletristik braucht eine solide Faktenbasis. Doch was aus dem Wissen wird, unterscheidet sich: Gebe ich es in verständlicher Form und mit Illustrationen wieder oder suche ich die Geschichten darin? Letzteres gibt mir mehr künstlerische Freiheit. Beide Projekte haben mich in ihre Welt gezogen: Beim Schreiben des Ratgebers tauchte ich tief in Literatur und Podcasts über Narzissmus ein und beim Krimi fühlte ich mich, als würde ich mit meinen Figuren in einer WG leben.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, für Ihren ersten Roman reale Vorfälle der Kinderverschickung in eine fiktive Erzählung einfließen zu lassen? Und warum war es Ihnen wichtig, auch das Thema Demenz einzubeziehen?

Genauso wie die Familie meiner Hauptfigur fährt auch meine eigene gern nach Amrum. Auf der Fähre sieht man Föhr, wohin meine Mutter als Kind verschickt wurde. Zum Glück hat sie – abgesehen vom riesigen Heimweh – fast nur gute Erinnerungen an diese Reise. Ihre Anekdoten lösten in mir trotzdem den Drang aus, einen Beitrag zur Aufarbeitung dieses Kapitels zu leisten. Ebenso zur Sensibilisierung für Demenz. Mit dieser Krankheit bin ich erstmals durch einen Studentinnenjob in der Pflege, aber auch durch mein privates Umfeld in Kontakt gekommen – daher weiß ich, wie herausfordernd das Miteinander sein kann. Seit vielen Jahren arbeite ich im Rahmen meines musikalischen Bühnenprogramms mit der Alzheimer Gesellschaft, mit „Konfetti im Kopf“ und ähnlichen Initiativen und Projekten zusammen, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, dass Menschen mit Demenz in die Mitte der Gesellschaft gehören.

An manchen Stellen liest sich der Krimi wie eine dokumentierte Abfolge schlimmer Ereignisse, die den Verschickungskindern widerfahren sind. Dadurch vergisst man, dass man eigentlich einen Krimi mit fiktiven Charakteren in der Hand hält. Wie haben Sie die Balance zwischen Fakten und Fiktion empfunden? 

Von Anfang an habe ich mit der Balance gerungen: Darf die Handlung der Hauptfiguren so locker, humorvoll und launig daherkommen, wenn das Buch ernste, auf wahren Begebenheiten beruhende Themen behandelt? Viele Menschen leiden bis heute an den Folgen der oft qualvollen Erfahrungen während ihrer Kinderkuren. Aus Achtung vor diesen Schicksalen überkam mich immer wieder der Zweifel. Gleichzeitig brauchten die düsteren Einblicke in unsere Vergangenheit ein Gegengewicht, denn mein Ziel war es, ein Buch zu schreiben, das auch jene erreicht, die von sich aus kein Sachbuch zu diesem Thema in die Hand nehmen würden. Auf Lesungen kann ich die Wirkung unmittelbar erleben: Es wird gelacht, und trotzdem – oder gerade deswegen – kommen Menschen zu mir, teilen ihre eigenen Bezüge zum Thema oder fühlen sich ermutigt, mit betroffenen Familienmitgliedern ins Gespräch zu gehen. In solchen Momenten spüre ich, dass der Balanceakt sich gelohnt hat.

Ihre Hauptfigur Lale ist, genau wie Sie, Psychologin. In welchen Punkten sehen Sie Parallelen zwischen sich und Lale? Und in welchen unterscheiden Sie sich vielleicht? Wer das genauer wissen möchte, sei herzlich eingeladen, zu einer Lesung zu kommen. Da plaudere ich ein bisschen aus dem Nähkästchen – bei dieser und anderen Fragen. Vielleicht schon mal so viel: Meine Figur wird im Verlauf weiterer Bände auf eine Entwicklungsreise geschickt. Auch wenn es in einer Krise mal eine Weile anders aussehen kann – uns beiden ist es eigen, dass wir nie stehen bleiben, sondern uns aufrappeln und weiterentwickeln. Und den selbstironischen, psychologischen Blick auf die Welt teilen wir wohl auch. Ich hoffe allerdings, dass ich bei Friesentorte und Toten Tanten etwas mehr Zurückhaltung an den Tag legen kann! (lacht)

Ihr Roman behandelt mit Kinderverschickung und Demenz sehr ernste Themen, die selbst für Krimi-Fans ungewohnt schwere Kost sein könnten, da sie die Lesenden ganz ungefiltert treffen. Finden Sie, dass solche historischen Missstände und ihre Nachwirkungen heute noch zu wenig thematisiert werden?

Schwere Kost kann das natürlich sein, da es ja schwere Themen sind. Allerdings kann das, was uns beim Lesen belastet und was uns nährt, ganz unterschiedlich sein. Ich habe für Krimi-Fans geschrieben, die keine blutrünstigen Morde vor Augen haben möchten, sondern eher die psychologischen Abgründe anspruchsvoller Hintergründe zu schätzen wissen. Und tatsächlich nutze ich den Kriminalfall als Sprachrohr, um die Wurzeln und die Folgen der Kinderverschickung ein Stückchen mehr ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Denn ich bin überzeugt, dass hier noch ein Weg vor uns liegt. 

Das Interview
führte Michelle Vicente.


Turid Müller: Im Schatten der Insel.
Piper, 386 Seiten, 18 Euro


Das Leben mit 40 hat Lale sich anders vorgestellt: Seit ihrer Scheidung lebt sie wieder in ihrem Kinderzimmer – als Pflegerin ihrer an Demenz erkrankten Mutter. Mit der Reise nach Amrum möchte Lale den Herausforderungen dieser, ohnehin nicht leichten, Beziehung zumindest vorübergehend entfliehen. Doch bevor die lang ersehnte Erholung einsetzen kann, verstrickt die Mutter sich in einen Mordfall, der tief in deren abgründige Erinnerungen führt: Als Verschickungskind allein auf Föhr. Doch die Spuren rund um die Tat reichen noch weiter zurück, in ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, über das die Mutter lieber schweigt … 

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