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von Mirjam Stein


Der Wichtel Wirrlocke Wilms schlendert nachdenklich durch die spärlich beleuchtete Stallgasse. Die letzte Trainingsfahrt vor dem großen Finale hat länger gedauert als geplant. Natürlich sind die Rentiere schon top in Form, aber wie bei einem erfolgreichen Bühnenstück geht auch die Generalprobe im Weihnachtsbusiness häufig schief. Die Rentiere hatten nicht genug Anlauf für den Start, verhedderten sich mehrmals in den langen Leinen, und dann fiel auch noch Rudolfs rote Nase kurzzeitig aus. Welch eine Aufregung! Zum Glück hatte der Support-Wichtel schnell die richtigen Handgriffe parat. Erst das linke Ohr kurz und schmerzlos um 10 Grad drehen, dreimal leicht auf die linke Vorderhufe klopfen, zum Schluss ein freundlicher Klaps auf die Schulter, und schon konnte die Fahrt bei strahlendem Licht weitergehen.

Nach dieser wilden Tour hat sich das tapfere Schlittenteam eine Extraportion Futter und eine lange Streicheleinheit verdient, denkt Wirrlocke Wilms. Wenn morgen der Weihnachtsmann die Zügel in die Hand nimmt, sollen die Vierbeiner schließlich motiviert und munter sein. Jetzt hängt er nur noch das frisch geputzte Zaumzeug zurück und freut sich auf seinen Feierabend. Auch er braucht eine große Mütze Schlaf, denn morgen wird er den Weihnachtsmann als oberster Rentierhüter bei seiner Geschenketour begleiten. Aber vorher macht Wirrlocke es sich mit seiner aktuellen Sherlock-Holmes-Geschichte auf dem Sofa bequem.

Er will sie heute zu Ende lesen, damit er morgen bereit ist für das hoch spannende Weihnachts-Special der Krimireihe.

Der Weihnachtsmann lässt sich von der Aufregung um den Drohbrief nicht aus der Ruhe bringen
und studiert ein letztes Mal die lange Wunschliste

Der große Schreck

Früh am nächsten Morgen klopft es laut an der Tür. Wirrlocke schreckt auf. Aber weniger durch das Klopfen, sondern vielmehr, weil sein Krimi nicht neben ihm, sondern auf seiner Nase liegt und er mit etwas Schielen erkennt, dass ihm nur noch fünf Seiten bis zur Auflösung des Falles fehlen. Grummelnd legt er das Buch beiseite und schlurft zur Tür, an der es schon wieder lautstark hämmert. Als er die Tür öffnet, sieht er alle Wichtel aufgeschreckt durch den tiefen Schnee flitzen. „Na nu“, denkt er sich. „Gestern waren die Vorbereitungen doch schon beinahe abgeschlossen.“ Und da fällt ihm auch schon Werner in die Arme. Die rechte Hand des sonst so galanten Oberwichtels zittert wie Lametta bei Durchzug und er schluchzt in Wirrlockes Mähne. Die ersten Erklärungsversuche kann Wirrlocke gar nicht verstehen, bis er ihn fest an den Armen packt und von sich wegschiebt. DAS hätte er in seinen 50 Jahren als oberster Wichtel noch nicht erlebt! „Ich habe heute Morgen … ich meine, der Postwichtel hat heute Morgen … ja, ganz in der Früh schon … der muss schon in der Nacht … ach, du liebes bisschen … da war ein Brief!“

Wirrlocke zubbelt sich einen Knoten aus den Locken. Das macht er immer, wenn er grübelt. „Wir erhalten jeden Tag Tausende Briefe, lieber Werner“, sagt Wirrlocke. Insgeheim wundert er sich aber doch, dass so spät noch ein Brief ankommt. Scheinbar mit einem so großen Wunsch, dass ihn die Wichtelwerkstatt gar nicht mehr umsetzen kann. 

„Nein, Wirrlocke! Du verstehst nicht. Der Weihnachtsmann hat einen Drohbrief bekommen“, ruft Werner und hält den Brief in die Höhe. „Was sollen wir nur tun? Wer könnte dem Weihnachtsmann etwas anhaben wollen?!“

Nun ist auch Wirrlocke baff. Damit hat er nicht gerechnet. Die Kriminalität im Wichteldorf liegt bei null. Hier und da wird vielleicht mal ein Keks geklaut. Aber die Wichtel haben von Natur aus schnell ein schlechtes Gewissen und entschuldigen sich am nächsten Tag mit einem ganzen Blech voller Kekse. Der Brief muss von außerhalb kommen.

Die Vernunft wird Siegen?

Wirrlocke und Werner kommen gerade im Büro des Weihnachtsmannes an und Werner schreit entsetzt auf: „Sie wollen doch nicht wirklich heute die Geschenke verteilen!“ Der Weihnachtsmann steht vor dem Spiegel und legt sich gerade seine rote Jacke um die Schultern. Er lacht sein freundlich dröhnendes Lachen und zwängt dabei die Knöpfe durch die Löcher. Auf Höhe des Bauchnabels hält er inne. „Natürlich fahre ich heute los. Die Kinder warten schließlich auf ihre Geschenke.“ Der Weihnachtsmann blickt stirnrunzelnd auf seinen Bauch und schaut sich Hilfe suchend um. Der Schneiderwichtel eilt mit Nadel, Faden und Schere herbei und versetzt den Knopf mit flinken Fingern ein kleines bisschen an den Rand der Jacke. Während Werner vor Sorge um den Weihnachtsmann in heller Aufregung ist, schaut dieser sich die lange Wunschliste für dieses Jahr an. Das scheinbar endlose Stück Papier beginnt als Rolle in seiner linken Hand, fließt auf den Boden, vorbei an seinen schwarz polierten Schuhen weiter ins Bad und über den Rand der Badewanne. Dort verliert sich die Liste.

„Mein lieber Werner, ich weiß, dass du mir immer zu einem Wachwichtel-Service geraten hast, aber ich bin der Weihnachtsmann … Wenn mir jemand etwas tun möchte, werde ich höchstpersönlich mit der Person sprechen und sie zur Vernunft bringen. So etwas ist doch keine Lösung.“ Der Schneiderwichtel wirft sich seinen lilafarbenen Schal über die Schulter, verschwindet wieder, und der Weihnachtsmann lächelt zufrieden, als er sich über die jetzt geschlossene Jacke streicht. „Ich weiß, wie wir es machen. Wirrlocke ist doch ein ganz ausgebuffter Krimileser und er begleitet mich als Rentierhüter eh bei der Fahrt. Er wird die Zeichen richtig deuten und im Notfall eingreifen. Die Polizei könnte bei unserem Tempo eh nicht mithalten.“

Wirrlocke ist gleichermaßen verdattert und stolz. Der Weihnachtsmann kennt seine Wichtel wirklich gut, aber dass er von seiner Vorliebe für gute Kriminalfälle weiß, hätte er nicht gedacht.

Werner hingegen traut seinen Ohren kaum. Weder ist der ständig verwirrte Wirrlocke ein erfahrener Ermittler, noch haben die Geschichten aus seinen Romanen irgendetwas mit der Realität zu tun. Aber der Weihnachtsmann hat gesprochen und er kennt ihn nur zu gut. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Trotz der Warnung des Oberwichtels Werner begeben sich der Weihnachtsmann und seine Wichtel auf die große Reise

Erste Hinweise

Damit Wirrlocke sich auf die anstehende Aufgabe vorbereiten kann, hat er seine Rentierhütertruppe angewiesen, schon mal ohne ihn das Gespann startklar zu machen. Unterdessen schaut er sich in der Sattelkammer den Drohbrief an. Hier kann er am besten nachdenken. Ein Klassiker und ein bisschen einfallslos, denkt er enttäuscht. „Geschenke nur für, die, die sie verdienen, sonst droht dir …“, steht dort geschrieben. Die Nachricht besteht aus einzeln ausgeschnittenen Buchstaben, die in Folie einlaminiert wurden, wohl um die Botschaft zu schützen. Da öffnet sich die Tür zu dem kleinen Raum. Waltraud schaut mit ihrem frisch gekämmten Haarschopf herein. Sie ist die gute Seele in seinem Team und hilft ihm, in stressigen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren. „Rudolfs Nase leuchtet zuverlässig. Ich habe sie gerade geprüft“, bestätigt Waltraud und sieht Wirrlockes nachdenkliches Gesicht. „Die Buchstaben sind sauber und scheinbar mit einer sehr scharfen Schere ausgeschnitten. An einigen Buchstaben hängen kleine Faserreste“, resümiert Wirrlocke. „Noch haben wir den Täter oder die Täterin nicht überführt, aber der Weihnachtsmann möchte los. Also spannen wir die Rentiere an und fliegen los.“ Gemeinsam mit Waltraud stapft er durch den Schnee zu den Rentieren, die bereits mit den Hufen scharren. Die stärksten unter den Wichteln wuchten gerade den schweren Sack mit den Geschenken auf den Schlitten. Da kommt schon der Weihnachtsmann aus seinem Haus, schließt die Tür und atmet einmal tief durch. Dann marschiert er los, steigt vorne auf den Schlitten und gibt den Rentieren das Startsignal. Die Wichtelhütten werden rasant kleiner und sind kurz darauf nur noch als kleine Lichtpunkte zu sehen.

Während der Weihnachtsmann mit seinen extra ausgewählten Wachwichteln durch die Schornsteine rutscht und den Kindern hübsch verpackte Präsente unter den Baum legt, bewachen Wirrlocke und Waltraud die Rentiere und untersuchen weiter den Drohbrief. Wirrlocke entdeckt schwarze Staubpartikel an den Kanten. Mit dem Zeigefinger nimmt er eine Probe: „Schmeckt süßlich, ein bisschen nach Kakao, vielleicht Zimt, auf jeden Fall Butter.“ Der Brief ist per Kaminzustellung beim Weihnachtsmann angekommen und scheint aus einem Haus zu kommen, in dem gerne genascht wird. Im nächsten Dorf nutzt er die Gelegenheit und klingelt bei einem Schornsteinfeger. Als der Mann verschlafen und reichlich verdattert die Tür öffnet, hält Wirrlocke ihm den Brief unter die Nase. Der Schornsteinfeger ist in der Welt herumgekommen, aber schüttelt entschuldigend den Kopf. Das sei der erste Geruch, den er nicht zuordnen kann. Müsse aus einer anderen Welt kommen, ergänzt er noch, verärgert über seinen Misserfolg, als er die Tür schließt. Zurück beim Schlitten ist Wirrlocke immer noch nicht schlauer. Von Außerirdischen haben sie noch nie Post bekommen.

Die restliche Tour bleibt ruhig. Der Weihnachtsmann rutscht durch einen Kamin nach dem anderen und steigt meist knuspernd und mit einem zweiten Keks in der Hand wieder auf den Schlitten. Die Wachwichtel scheinen den Täter oder die Täterin abzuschrecken. Je näher das weihnachtliche Flugobjekt dem Wichteldorf kommt, desto entspannter wird Wirrlocke. Sie konnten den Angriff auf den Weihnachtsmann bisher verhindern.

Kurz vor dem Ziel stoppt der Weihnachtsmann für eine kurze Pinkelpause. Mitten im finnischen Lappland ist es ganz schön dunkel. Gut, dass Rudolf das Gespann mit seiner Nase erleuchtet. In diesem Licht schimmert der Drohbrief viel heller. Es befindet sich nur wenig Ruß darauf. Das deutet eigentlich auf eine kurze Strecke zwischen den Kaminen hin, was aber der Aussage vom Schornsteinfeger widersprechen würde.

Keine Alternative für Wichtel

Da fällt es Wirrlocke wie Fusseln aus der Kleidung. Mit energischer Stimme weist er seine Rentiere an, von der üblichen Route abzuweichen und aus Westen zum Dorf zu fliegen, früher zu landen und den Rest auf leisen Kufen zurückzulegen. Kurz vor der Landebahn steigen Wirrlocke, Waltraud und der Weihnachtsmann vom Schlitten und schleichen die letzten Schritte bis zur großen Birke. Nahe der Landebahn sehen sie wenige Meter vor sich eine kleine Gestalt kauern. Am Baum daneben ist eine Schnur befestigt, die über die gesamte Landebahn gespannt ist. So sollte der Weihnachtsmann also zu Fall gebracht werden.

„Na warte, Schneiderlein! Dich knöpfe ich mir jetzt vor“, ruft Wirrlocke, als er mit einem Rentierstrick in der Hand auf die erschrockene Gestalt zuläuft. Mit zwei schnellen Griffen ist der Schneider gefesselt und an den Baum gebunden. „Wie kannst du es wagen, dem Weihnachtsmann zu drohen, nach allem, was er für uns tut?!“, fragt ihn der lockige Wichtel enttäuscht. Dieses Vergehen wird nicht mit einem Blech Kekse zu entschuldigen sein.

„Pff, bei allem, was er für uns tut …“, schnaubt der Schneider verächtlich. „Was tut er denn für uns? Er lässt uns das ganze Jahr über schuften, nur damit die Menschen und ihre Tiere schöne Geschenke zu Weihnachten bekommen! Womit haben die das bitte verdient? Die ,Alternative für Wichtel‘ fordert, dass nur noch Wichtel beschenkt werden. Nur wer Geschenke produziert und verpackt, bekommt auch welche. Das würde nicht nur den Aufwand und unsere Arbeitszeit reduzieren. Unsere Frauen hätten auch endlich wieder mehr Zeit für den Haushalt und die Keksproduktion“, ruft der Schneider.

Wirrlocke konnte das Rätsel um den Drohbrief gerade noch rechtzeitig lösen und den Täter dingfest machen

„Was ist das denn für ein Hirngespinst?“, entgegnet der Weihnachtsmann. „Und was soll diese ,Alternative für Wichtel‘ sein? Das ist doch völliger Humbug. Zur Strafe werde ich dich in die Welt der Menschen schicken, damit du ihren Kindern Weihnachtsgeschichten vorliest. Aber nun erzähl mir, Wirrlocke, wie bist du auf den Schneider gekommen?“ Der Weihnachtsmann dreht sich erstaunt zu seinem Rentierhüter.

Wirrlocke wendet sich dem Schneider zu, sichtlich bemüht, nicht zu stolz zu lächeln. „Der Schneider hat seine Tat sehr clever eingefädelt, aber er hat Spuren hinterlassen. Die Buchstaben wurden haargenau und mit einer scharfen Schere ausgeschnitten. Und das ganze Wichteldorf weiß, dass der Schneider, nach dem Schlachter, die schärfsten Scheren hat. Bei den letzten Anpassungen am Weihnachtsmantel trug der Schneider einen lilafarbenen Schal. Dessen Fasern hingen noch an den Buchstaben und wurden mit ihnen einlaminiert. Dass der Schornsteinfeger den Geruch vom Ruß nicht erkannte, verkomplizierte die Sache, war aber letztendlich logisch. Hier im Wichteldorf haben wir unseren eigenen Kaminwichtel, der sich übrigens regelmäßig über deinen vom häufigen Keksebacken stark verrauchten Kamin beschwert.“

Der Weihnachtsmann klopft Wirrlocke anerkennend auf die Schulter. Damit, dass der Tag so dramatisch wurde, hätte Wirrlocke nun wirklich nicht gerechnet. Es hat ihm Spaß gemacht, zusammen mit Waltraud wie seine großen Vorbilder Sherlock Holmes und Watson zu ermitteln. Aber es war auch ganz schön aufregend. In Zukunft dürfen die Ermittlungen in seinen Büchern bleiben, und diese „Alternative für Wichtel“ gehört wirklich verboten.

Bilder: KI-generiert

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