von Andrea Sievers
Schon lange hat Jens Quedens eine Vision: Das Amrumer Urgestein, seit 45 Jahren Vorsitzender des Amrumer Heimat- und Naturschutzvereins Öömrang Ferian, will auf der nordfriesischen Insel eine moderne, naturkundliche und historische Ausstellung zu Walen und Walfang aufbauen. Im Zentrum: Ein originales Pottwalskelett. Amrums Geschichte ist untrennbar verbunden mit derjenigen der Walfänger, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts auf abenteuerlichen Seefahrten vor allem im Nordmeer vor Spitzbergen die Meeresriesen jagten. Für Quedens ist klar: Ein Pottwalskelett sei ein spektakuläres Ausstellungsstück, das sowohl die Inselgeschichte, als auch den Naturschutz repräsentiert. Massenstrandungen an der Nordseeküste sind jedoch nicht alltäglich. Deshalb zögerte Quedens auch nicht lange, als 2016 das Nationalparkamt Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer informierte: Ein Wal ist da.
Schnelles Zuschlagen ist angesagt
Vor Helgoland trieben Mitte Januar zwei tote Pottwale. Auf ihrem Weg vom Nordmeer Norwegens zu ihren Paarungsgebieten rund um die Azoren sind die jungen Walbullen scheinbar zu früh links abgebogen. Die flache Nordsee wurde zur Sackgasse für die bis zu zweitausend Meter tief tauchenden Pottwale. In den folgenden Wochen sollten noch weitere 16 Pottwale auf Inseln und an Küsten der deutschen Nordseeküste stranden. Doch das ahnte bis dahin niemand. Weil für viele naturhistorische Institute ein Walskelett sowohl spannende Attraktion als auch interessantes Forschungsobjekt ist, blieb Quedens nicht der einzige Interessent. In den Büros vieler norddeutscher Naturkundler liefen in diesen Tagen die Telefone heiß. Schnell musste die Entscheidung fallen. „Als erstes habe ich auf unseren Kontoauszug geguckt“, berichtet Quedens. „Dann habe ich den Vereinsvorstand angerufen und den Bürgermeister von Norddorf informiert.“ Nur eine halbe Stunde später rief er das Nationalparkamt zurück. „Ich nehm‘ den.“ Jetzt musste der Wal nur noch nach Amrum kommen. Aber wie?
Wohin mit 15 Tonnen Raubtier?
Mehr als drei Jahre sind seitdem vergangen. „Mir war schon klar, dass das ein Riesenprojekt ist und jetzt Geduld gefragt war. Gleichzeitig musste natürlich alles ganz schnell gehen“, erzählt Quedens. Denn einen zwölf Meter langen, fünfzehn Tonnen schweren toten Pottwal kann man nicht mal eben ein paar Jahre in eine Tiefkühltruhe legen und irgendwann später das Skelett präparieren, wenn Geld und Platz da sind. Was nicht passte, musste passend gemacht werden.
Ein schauerliches Szenario
Auf Helgoland nahm ein Schiff den Wal auf den Haken und zog ihn ans Festland bis nach Nordstrand. Dort warteten schon Fachleute der Tierärztlichen Hochschule Hannover mit schwerem Gerät. Für die Schaulustigen erinnerte das Bild an ein blutrünstiges Gemetzel. Wie beim Schälen einer Apfelsine wurde der Walspeck mit scharfen Messern Schicht für Schicht von der Muskelmasse gelöst.
Mit langen Messern bewaffnet wateten Forscher in Gummistiefeln knietief durch die hervorquellenden Eingeweide. Knochen wurden vorsichtig aus dem Fleisch gelöst und im Laufe der nächsten Tage breitete sich ein unbeschreiblicher Gestank von Verwesung über dem Deichvorland von Nordstrand aus. Schon vor Ort wurden erste Untersuchungen durchgeführt. Im Magen fanden die Forscher tausende von Tintenfischschnäbeln – die Lieblingsspeise der Pottwale. Doch auch Plastikmüll, darunter ein 14 Meter langes Fischernetz, tauchte auf.
Die Größe wird ein Problem
Per Sondertransport wurden die Walreste nun von Nordstrand in die Nähe von Bremerhaven transportiert, wo die Tierpräparatoren Heidrun Strunk und Reenhard Kluge ihn in Empfang nahmen. Ein so großes Skelett haben die beiden auch nicht jeden Tag vor ihrer Haustür und stellte sie vor eine besondere Herausforderung: Um die Knochen von Fett- und Fleischresten zu befreien, müssten sie wochenlang in genau 58 Grad warmem, mit herkömmlichem Waschmittel versetztem Wasser ausgewaschen werden. „Ich mach‘ ja nicht gern Werbung, aber Persil wirkt am besten“, erzählt Strunk. Ihr Lebensgefährte funktionierte für die Aktion einen Container zu einer Riesenbadewanne um. Doch das Wasser wurde im Container nicht heiß genug. Kluge ließ sich nicht so schnell entmutigen. Kurzerhand engagierte er einen lokalen Heizungsbauer, der Rohre und Leitungen mit der Zentralheizung seines Wohnhauses verband. Die gewünschte Wassertemperatur wurde erreicht.
Das stinkt doch bis zum Himmel
Das viele Geschraube, der intensive Geruch und die merkwürdigen Geräusche machten Kluges Nachbarn nach wenigen Tagen misstrauisch. Sie schalteten das Ordnungsamt ein: Ob er für die Reinigung auch eine Genehmigung hätte und alles ordnungsgemäß entsorgt werden würde? Aber wer hat schon Zeit Formulare auszufüllen, wenn in seinem Garten ein Wal vor sich hin rottet? Zum Glück halfen die Betreiber der Bremerhavener Stadtentwässerung dem Präparator aus der Patsche. Sie verfrachteten den Container kurzerhand auf das Gelände eines Klärwerks, wo die Arbeit fortgesetzt werden konnte, und finanzierten auch noch Strom und Abwasserentsorgung.
Ankunft des knochigen Stars
Ende Oktober waren die Knochen schließlich so weit vorbereitet, dass sie nach Amrum transportiert werden konnten. Das sprach sich schnell herum. Als am 25. Oktober in Dagebüll der Lkw voll von fein gesäuberter Walknochen auf die Fähre rollte, wurde er von einem Fernsehteam und zahlreichen Schaulustigen begleitet. Am Ziel der Reise herrschte gar Volksfeststimmung: Kinder, Familien und Rentner, Einheimische und Feriengäste bildeten am Norddorfer Naturzentrum eine Menschenkette und reichten einander Rückenwirbel, Beckenknochen und Rippen bis hinauf in das Obergeschoss des Naturzentrums, in dem noch bis 2009 Badegäste in einem Hallenbad geplanscht haben. Im Juni war die alte Schwimmhalle endlich so weit umgebaut, dass Strunk und Kluge das knochige Durcheinander sortieren konnten. Innerhalb von fünf Wochen setzten sie 153 Teile in einer Art 3D-Puzzle wieder zusammen. Um den Knorpel zu ersetzen und die Knochen miteinander zu verbinden, hatten sie ein eigenes Geheimrezept: Wasser, Gips, Holzleim und insgesamt 100 Rollen Klopapier wurden eimerweise zu klebrigem Pappmaché verarbeitet.
In Position gebracht
Endlich war es so weit: Die Schwimmhalle war renoviert, das Walskelett geschickt aufgebaut. Auf zwei Ebenen kann man die Halle nun sowohl von unten abschreiten, als auch auf gleicher Höhe durch die Rippen hindurch in die Amrumer Dünenlandschaft schauen. Und obwohl auf sieben schmalen Stelen gestützt, scheint das Skelett zu schweben. Steigt man die wenigen Stufen hinab in das umgebaute Wasserbecken und blickt von unten durch die Rippen des Wals, fühlt man sich plötzlich sehr, sehr klein. Während der Führungen durch das Amrumer Naturzentrum (Mi, Fr und So, jeweils um 14 Uhr) können Besucher einen Blick auf den Meeresgiganten werfen.
Es gibt noch viel zu tun
Währenddessen wartet Jens Quedens noch auf den letzten Schritt der Realisierung seiner Vision: Eine moderne Ausstellung mit Walklängen, Filmen, historischen Exponaten zum Walfang und Informationen zur Biologie der Wale soll rund um das Skelett entstehen. Etwa 300.000,- € muss der Verein insgesamt auftreiben, um vom Zerlegen des Pottwals in Nordstrand über den Transport bis hin zur geplanten Ausstellung alle Kosten zu decken. Rund 160.000,- € fehlen noch. Um das Geld zusammen zu bekommen, verkaufen Schulkinder selbstgemalte Postkarten, Touristen werfen an der Supermarktkasse ihr Wechselgeld in eine Spendenbox und Quedens bleibt geduldiger Optimist: „Auf deutsch sagt man ja: Kleinvieh macht auch Mist. Wir Friesen kennen einen ähnlichen Spruch: ‚Jeder Tropfen hilft, sagt die Ameise und pisst ins Meer.‘“