Mit Charlie & Stenz Unterwegs

Fast so wie vor Hunderten Jahren gehen Handwerksgesell*innen auf die Walz, um ihr Wissen und ihren Horizont zu erweitern. Zum zünftigen Reisen gehören sonderbare Rituale und ein eigener Jargon, die Regeln sind streng, Handy oder Tablet tabu. Was reizt die jungen Menschen daran, was treibt sie an?
von Nicoline Haas


Losgehen fällt leichter als wiederkommen. Als Jan am 15. Juli das Ortschild von Risum-Lindholm erblickte, spürte er einen Kloß im Hals. Tränen lösten sich, keine Freudentränen. Und das, obwohl der Tischlergeselle sechs Jahre unterwegs war, oft Tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt. Bis nach Neuseeland hatte es den Nordfriesen zuletzt verschlagen. „Schade, dass ich die Straße jetzt nicht mehr seh‘. Dass die Freiheit vorbei ist“, sagt er mir kurz darauf am Telefon. Ein Begleittrupp von seiner „Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen“ hatte ihn für die letzte Etappe im dänischen Ribe abgeholt. Von dort ging es inselhüpfend über Röm, Sylt und Föhr zurück in sein Dorf, wo ihn Familie und Freunde in die Arme schlossen. Die Arbeit in der Tischlerei seines Vaters hilft ihm jetzt, anzukommen. Hauptgeschäft sind Türen, Fenster und Treppen, oft im friesischen Landhausstil. Unterwegs erledigte Jan vielfältigste Aufgaben, am liebsten mit Vollholz und alten Handwerkstechniken: „In Windhoek durfte ich eine Hotelbar aus massiver Buche bauen.“ Einer Buche aus Namibia? „Nee, wir haben uns ‘nen Baum aus Deutschland bestellt.“ Die Straße wird Jan wohl noch eine Weile vermissen, doch nicht die Kontakte zu seinesgleichen. Gesellige Anlässe gibt es viele, etwa das Himmelfahrtstreffen, das zuletzt in Kiel stattfand:

Offline geht es auch

Am 19. Mai ziehen rund 250 Handwerkskameraden feierlich zum Rathaus. Drinnen schallern sie inbrünstig im Chor: „Den schönsten Frühling, den seh‘n wir wieder, in ganz Europa weit und breit. Frisch auf Gesellen, singt frohe Lieder, jetzt ist des Reisens wohl allerschönste Zeit (…).“ Wie passt das zusammen, so junge Kerle, die meisten Anfang 20, und so ein altmodisches Lied? Im Ratskeller frage ich in die Runde: „Vermisst ihr nicht manchmal euer Smartphone?“ Allgemeines „Nö.“ Einer sagt: „Selbst wenn ich eins dabei hätte, würde ich zum Beispiel keine Story posten oder Fotos teilen. Meine Erlebnisse gehören mir. Und wenn ich jemandem was erzähle, dann persönlich.“ Er zieht eine zerknitterte Landkarte aus seiner Büx: „Und das ist mein Google Maps.“ Grinsend muss ich daran denken, dass viele Leute ständig nach unten starren, aufs Display. Wandergesell*innen schauen sich um und anderen Menschen ins Gesicht.

Gesellige Runde in Hamburg

Die rechtschaffenen fremden Gesellen sind deutschland- und weltweit vernetzt. In Schleswig-Holstein gibt es Gesellschaften in Kiel, Flensburg, Lübeck und Heide, auf Sylt und Föhr. Jeden ersten Samstag im Monat, so auch am 5. August, trifft sich die Gesellschaft zu Hamburg mit zugereisten Gästen in der Kneipe „Zum Lohhof“ am Hammer Park. Es läuft Fußball im TV, Dartpfeile fliegen, und am Tresen prosten sich mehrere Gesellengenerationen zu, alles Zimmerleute: Günther etwa war von 1954 bis 1958 auf Wanderschaft, der leitende Altgeselle Olav tippelte in den 1980ern, und Dominik startete 2021 – in Oberägeri in der Schweiz. Alle tragen Kluft: Dazu zählt ein Hut, eine Art Schlips namens Ehrbarkeit und ein goldener Ohrring mit Zunftzeichen aus Säge, Zirkel, Breitbeil und Axt. Ich erfahre, dass angehende Wandergesellen ihr Ohrloch per Hammer und Nagel verpasst kriegen. Autsch! Früher diente der Ohrring als Notgroschen und Bestattungsvorsorge, und wer sich was zuschulden kommen ließ, wurde zum „Schlitzohr“. Noch mal autsch! Maik aus Wuppertal gesellt sich dazu, und im Gespräch stellt sich witzigerweise heraus, dass Dominik voriges Jahr in derselben Zimmerei bei Tarp tätig war, wo Maik jetzt arbeitet. Der Wohnwagen, wo Dominik eine Corona-Quarantäne verbringen musste, ist jetzt Maiks Rückzugsort, um sich vom Tagwerk zu erholen: „Wir sind gerade dabei, den Dachboden einer Schule in Kappeln neu zu dämmen“, erzählt er. „Heiß und stickig ist es unterm Dach.“

Reisen, um zu Reifen

Maik zeigt mir sein Wanderbuch mit handgeschriebenen Arbeitszeugnissen und gestempelten Stadtwappen aus aller Welt. Er führt auch Tagebuch und schickt vollgeschriebene Notizblöcke nach Hause. Wandergesell*innen reisen mit leichtem Gepäck, doch ihre Erlebnisse und tiefen kulturellen Einblicke machen sie innerlich steinreich. Wenn man Maik erzählen hört, meint man, er müsste 72 sein, statt 27. Auf La Gomera wohnte er bei Hippies in Höhlen, in Thailand zeitweise mit Mönchen im Dschungel, und im indischen Kalkutta nahm ihn ein Taxifahrer privat in der Familie auf. Maiks nächstes grob gestecktes Ziel heißt Skandinavien. Die Reiseroute ergibt sich. „Du musst offen und spontan sein und darauf vertrauen, überall klarzukommen“, spricht er aus Erfahrung. Seine Augen blitzen abenteuerlustig, er hat nach vier Jahren immer noch nicht genug.

Streng und Geheim

Vorgeschrieben sind drei Wanderjahre plus einen Tag. In dieser Zeit darf man seinem Heimatort nicht näher als 50 Kilometer kommen. Auch soll man ledig, kinderlos, schuldenfrei und zum Start unter 30 Jahre sein. Öffentliche Verkehrsmittel sind verpönt, doch nicht immer vermeidbar. Das wichtigste Gebot ist, sich anständig zu verhalten, damit Wandergesellinnen weiterhin Arbeit und Hilfe finden. Anders als früher arbeiten sie aber nicht mehr nur für Kost und Logis, um keine billige Konkurrenz für örtliche Handwerkerinnen zu sein. Irritierend finde ich, dass die rechtschaffenen fremden Gesellen und andere Schächte keine Frauen aufnehmen. Und die einzigen Ausnahmen, „Axt und Kelle“ und der „Freie Begegnungsschacht“, haben keine Internetpräsenz. Generell sind Infos für Außenstehende schwer zu bekommen, die Tippelei umgibt ein geheimnisvoller Nebel. Schriftstücke sind rar, es gilt die Kultur der mündlichen Überlieferung. Nathalie war schachtunabhängig als freireisende Bautischlergesellin auf der Walz, studierte danach Bauingenieurswesen und schreibt heute als Journalistin über Themen ihres Fachs (architektur-bauen-handwerk.de). Die Hamburgerin sagt: „Dass man sich Infos und Kontakte so hart erarbeiten muss, ist wie eine erste Prüfung. Wenn du es wirklich willst, wirst du am Ball bleiben – auch später auf deiner Wanderschaft.“#

Als Frau in der Fremde

Durch eine Zufallsbegegnung mit Wandergesellen erfuhr Nathalie von Treffen und Partys, knüpfte dort weitere Kontakte und fand schließlich einen „Exportgesellen“ – denn ohne geht es nicht los: Ein Schmied aus Kiel holte sie von zu Hause ab, begleitete sie in den ersten Monaten und wies sie in die Praxis des zünftigen Reisens ein. Auf sich gestellt, sammelte Nathalie fast nur gute Erfahrungen. Ob beim Trampen, bei Einladungen von wildfremden Personen oder gelegentlichen Nächten unter freiem Himmel. Sie glaubt, dass auch ihre respektable Kluft und ihr selbstsicheres Auftreten dazu beigetragen haben, dass sie ihren Stenz zum Glück nie zur Verteidigung benutzen musste. Allerdings wurde ihre Kluft im Ausland nicht immer erkannt, und in manchen Regionen sind Frauen im Handwerk schlicht unüblich. „In Spanien zum Beispiel musste ich gegen Vorurteile ankämpfen“, sagt sie. „Man hat mir nicht direkt zugetraut, dass ich etwas kann, ich musste die Arbeitgeber erst davon überzeugen. Ein Bonus war, dass ich fließend Spanisch spreche.“ Eines ihrer Lieblingsprojekte war eine Baustelle im rumänischen Sibiu: Dort half sie, eine Herberge für Wandergesell*innen von Grund auf zu sanieren. In Osaka, Japan, arbeitete sie in einer Tempelschreinerei mit: „Mich reizte die besondere Bautechnik. Es gibt Holzverbindungen, die wir in Europa nicht haben, auch ganz andere Arten von Fachwerk. Und man lernt, ohne Maschinen, einzig mit von Hand geschärften Werkzeugen zu arbeiten.“ Die wichtigste Erkenntnis ihrer Reise war „die unglaubliche Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit vieler Menschen.“ Dieses positive Gefühl prägt sie bis heute.

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