Karsten Hinrichsen ist ein Urgestein der Anti-AKW-Bewegung in Brokdorf und Aktivist der ersten Stunde. Dreizehn Jahre lang klagte er gegen die Betriebsgenehmigung und arbeitete sich hartnäckig durch sämtliche Instanzen.
Seine Klage wurde 1999 abgewiesen. Aber der Meteorologe, der mit Blick auf das AKW in einem früheren Altenteilerhaus lebt, hat nie aufgegeben.
Im Interview sprach er über die Höhen und Tiefen des Widerstandskampfes, den Sinn von Bürgerprotesten und die Macht der Konzerne und was trotz des Atomausstieges noch auf die Gesellschaft zukommt.

Der Atomausstieg ist beschlossen, Ende des Jahres geht das AKW Brokdorf als viertletztes der deutschen Atomkraftwerke vom Netz. Werten Sie und Ihre Mitstreiter*innen das auch als persönlichen Erfolg und sind Sie erleichtert?

Das führt zu einer ganz erheblichen Erleichterung bei mir, denn ein Super-GAU in nur 1,5 Kilometern Entfernung wäre wegen der Strahlenbelastung mit langjährigem Verlust der Heimat und erheblichen Gesundheitseinbußen verbunden. Als persönlichen Erfolg bewerte ich den Atomausstieg nicht, eher als Teamwork der vielen Gegner*innen der Atomenergienutzung. Ganz wesentlich für den Ausstieg sind zwei Ereignisse. Erstens: Die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 hat die lebensbedrohlichen Gefahren der Atomkraft wieder ins gesellschaftliche Gedächtnis gebracht.

Zweitens: Nachdem Kanzlerin Merkel erst die Verlängerung der Restlaufzeiten für die deutschen Atomkraftwerke 2010 durchgesetzt hatte, vollzog sie nach dem Unglück in Fukushima eine Kehrtwende – der Atomausstieg wurde beschlossen. Andere Persönlichkeiten hätten das meiner Meinung nach nicht durchsetzen wollen und können.

Karsten Hinrichsen engagiert sich seit den 1970erJahren gegen das AKW

Trotz eines breiten Bürgerprotestes wurden die Interessen der Atomkonzerne gegen jeden Widerstand immer wieder durchgesetzt. Die Geschichte der Anti-AKW-Bewegung wirkt wie der Kampf David gegen Goliath. Haben Bürgerproteste gegen politische Entscheidungen und Konzerninteressen eine Chance?

Ja, das Kräfteverhältnis zwischen AKW-Gegner*innen und Staat und Energiekonzernen war zwar ungleich. Doch schon wenn jeder Erwachsene in Schleswig-Holstein nur einen Tag im Jahr vor dem AKW in Brokdorf demonstriert hätte, wären es circa 6.000 Demonstrierende täglich gewesen. Das hätte keine Landesregierung und kein AKW-Betreiber lange durchgehalten. Deshalb glaube ich, dass Bürgerproteste gegen Konzern- und Regierungsentscheidungen niemals vergeblich sind. Es fehlt halt oft der Mut oder die Bequemlichkeit siegt.
Dabei ist das Durchsetzen von Ideen zusammen mit Gleichgesinnten eine sehr beflügelnde Kraft. Nur ein Beispiel: Die kleine Bürgerinitiative Gesundheit- und Klimaschutz Unterelbe hat durch ihr Engagement und die Unterstützung durch große Teile der Bevölkerung der Wilstermarsch erreicht, dass die Planungen für vier Kohlekraftwerksblöcke in Brunsbüttel 2009 gegen die befürwortenden Politiker dieser Dinosaurier-Technologie aufgegeben wurden. Der Protest erfordert zwar Zeit und Geld, doch das Umsetzen von Ideen – wie zum Beispiel erneuerbare Energien, Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft –, die man als richtig erkannt hat, stärkt und befriedigt. Die Überzeugung zum Notwendigen beizutragen wurde von meiner wissenschaftlichen Arbeit als Meteorologe an der Uni Hamburg geprägt. Dafür bin ich dankbar.

Proteste in Brokdorf 1976

Am 28. Februar 1981 fand in Brokdorf die bis dahin größte Demonstration der Bundesrepublik statt. Trotz eines in der Nacht verhängten Verbotes und repressiver Maßnahmen des Staates demonstrierten 100.000 Menschen in der Wilstermarsch. Teilweise kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Polizei war mit Hubschraubern
im Einsatz und es gab regelrechte Jagdszenen auf einzelne Demonstrierende. Vier Jahre später erklärte das Bundesverfassungsgericht das damalige Demonstrationsverbot für verfassungswidrig. Hat die Großdemonstration und der Umgang damit die Anti-AKW Bewegung verändert?

Die Demo hat nach meinem Empfinden dazu beigetragen, dass auf beiden
Seiten die Ansicht zugenommen hat, dass die körperliche Auseinandersetzung wenig zur Lösung eines in der Gesellschaft vorhandenen Konfliktes beiträgt – insbesondere nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
Es war klar geworden, dass auch ein demokratischer Staat, der seine Unrechtspolitik durchsetzen will, dazu in der Lage ist, ein dafür erforderliches Gewaltpotenzial aufzubauen. Der Stil der inhaltlichen Diskussion ist nach dieser Erfahrung versöhnlicher geworden – was aber nicht bedeutet, dass den Gegner*innen von staatlich befürworteten Planungen ehrlich begegnet wird!

Die Nuklearkatastrophe von Fukushima rückte die Gefahren der Atomkraft wieder ins gesellschaftliche Bewusstsein

Ein AKW wird vor der eigenen Haustür gebaut, das klingt in erster Linie nach einer Bedrohung. Wie haben die Menschen vor Ort reagiert?

Zunächst war unser Brokdorfer Bürgermeister gegen den Bau des AKWs – nach einer Besichtigungsreise zu Atomanlagen im Ausland änderte er aber seine Meinung. Eine Bürgerbefragung ergab keine Mehrheit für den Bau, doch dann wurden die Enthaltungsstimmen als Zustimmung gewertet. Die weit überwiegende Mehrheit der Brokdorfer Bevölkerung war danach für das AKW, auch weil Gewerbesteuereinnahmen sowie der Bau eines Klärwerks, eines Schwimmbades und einer Sporthalle lockten. Die Befürwortung ging so weit, dass die Gemeinde sogar den Bau von Windkraftanlagen auf ihrem Gebiet untersagte! Ein sehr geringer Teil der Brokdorfer*innen war gegen die Atomenergienutzung. Wir wenigen halten weiterhin zusammen. Große Teile der Bevölkerung waren auch durch die Verlautbarungen der Politik, dass die AKW-Gegner gewalttätig seien und von der DDR finanziell unterstützt würden, verunsichert. Es ging in der Wilstermarsch ein Riss durch die Bevölkerung bis hin zur Spaltung innerhalb von Familien. Bei der Landbevölkerung haben die gebrochenen Versprechungen der Politiker und die Gewaltanwendung der Polizei zu einem erheblichen Vertrauensverlust in die Demokratie beigetragen.

Der Betreiber PreussenElektra hat den Rückbau des AKW Brokdorf beantragt. Welche Risiken sind damit verbunden?

Die Risiken beim Rückbau in Brokdorf sind wesentlich größer als zum Beispiel die beim Rückbau des AKW Brunsbüttel. Da die Leistung des AKW in Brokdorf erheblich höher ist, sind auch die Abfallmengen entsprechend höher. Zudem soll mit dem Rückbau direkt nach der Stilllegung begonnen werden. Dadurch sind die Mitarbeitenden einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt als im AKW Brunsbüttel, das schon 2007 stillgelegt wurde. Einige Anwohner*innen wohnen nur gut 100 Meter vom Atomkraftwerk entfernt und sind dadurch einer erheblichen Gefahr ausgesetzt. Das Problembewusstsein in Politik und Gemeinden ist aber so gering, dass zum Beispiel im AKW Brokdorf genutzte Container jetzt als Klassenräume im Schulverband Wilstermarsch genutzt werden. Die atomaren Abfälle werden noch Jahrzehnte vor Ort zwischengelagert werden und der Propagandaspruch „Das Gelände soll wieder eine grüne Wiese werden” wird noch zig Jahre nicht erfüllbar sein!

Ein Endlager ist noch immer nicht gefunden. Was passiert jetzt mit dem radioaktiven Müll?

Der Gesellschaft fällt nun, nach gut 50 Jahren der Verweigerung einer Endlagerentscheidung, die Entsorgungsfrage auf die Füße. Der entstandene Zeitdruck ist enorm, denn die atomaren Zwischenlager sind nur für 40 Jahre Standzeit genehmigt. Das Verbringen der hochradioaktiven Brennelemente in ein Endlager wird wohl mehr als 100 Jahre dauern. Die kommenden Generationen werden die Folgen unserer Atomstromproduktion ausbaden müssen. Das beim Rückbau anfallende Material, das als gering strahlend bewertet wird, darf wie konventioneller Müll gehandhabt werden. Diese Abfälle können dann als Baumaterial oder zur Stahlerzeugung wiederverwendet oder auf Deponien abgelagert werden.

Am 22. Januar 2021 trat der UN-Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Deutschland hat diesen nicht unterzeichnet. Welcher Zusammenhang besteht zwischen ziviler und militärischer Nutzung der Atomkraft und welche Rolle spielt dies in der Anti-AKW-Bewegung?

Die Stromerzeugung durch Atomkraftwerke ist eine preiswerte Möglichkeit zur Gewinnung von Uran und Plutonium zum Bau von atomaren Sprengkörpern. So haben bereits viele Staaten ihre Atomstreitkräfte munitioniert. Der Protest gegen die Atomkraft thematisierte immer die militärische UND die sogenannte friedliche Nutzung. Deutschland hat den Sperrvertrag nie unterzeichnet, weil es als treuer Gefährte der USA die Atomwaffenlagerung und Erprobung ermöglicht. Das atomare Gleichgewicht wird aber noch immer von großen Teilen der Politik und Gesellschaft als notwendig erachtet. Die Anti-AKW-Bewegung positioniert sich nach wie vor deutlich für die atomare Abrüstung.

Mit dem Atomausstieg bleiben trotzdem noch viele Fragen im Bereich der erneuerbaren Energien und des Klimawandels offen. Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Mitstreiter*innen und wie sehen Sie die Protestbewegungen der jungen Generation?

Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass der Kontakt zu Gleichgesinnten und Mitstreiter*innen abbricht. Wer o en ist für junge Bewegungen wie zum Beispiel Fridays for Future oder Ende Gelände, erkennt mit Freude, dass die heutige Jugend keineswegs unpolitisch ist, sondern viele Zusammenhänge eher versteht als meine Generation im gleichen Alter.

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